Mittwoch, 7. September 2011

Trauer oder Freude über heutige Schlagzeilen wie: "Euro-Hilfen sind verfassungsgemäß", "Bundesverfassungsgericht billigt EU-Rettungsschirm" oder "Verfassungsgericht weist Klagen gegen Euro-Rettung ab"?

"Beschwerde zurückgewiesen. Bundesverfassungsgericht billigt EU-Rettungsschirm" titelt heute z. B. FAZ.net.
Soll ich, als Eurealist, und folglich als ein massiver Gegner der europäischen Rettungspakete, Rettungsschirme, ESFS, ESM und wie sie auch immer heißen mögen (und ganz besonders als Gegner der Griechenland-Hilfe!) mich darüber nun ärgern? Nein!
Zwar mache ich nun nicht gerade Luftsprünge vor Freude; aber obwohl ich ein geschworener Feind unserer Euromantiker und Eurobonditen bin, verspüre ich dennoch eine gewisse Erleichterung über das Urteil.
Die Verfassungsrichter haben gut daran getan, die Entscheidungsfreiheit der Politik nicht über Gebühr einzuschränken. Sie haben Recht, wenn sie sagen:"Wie viele Schulden Deutschland verkraften könne, liege im Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers, 'den das Bundesverfassungsgericht zu respektieren hat'. Das Gericht können sich 'nicht mit eigener Sachkompetenz an die Stelle des Gesetzgebers setzen'."
Im Rahmen einer Gewaltenteilung darf sich die Judikative nicht zur heimlichen Beherrscherin des Landes aufschwingen; ohnehin sind mir Entscheidungen wie aktuell jene des Europäischen Gerichtshofs zum 'Gentechnik-Honig' äußerst suspekt. Die Justiz ist tendenziell eher konservativ, was ich angesichts der ohnehin allzu ausgeprägten Konservationsfreudigkeit in unserer Gesellschaft für ausgesprochen schädlich halte.

Und ganz generell versuche ich, konsequent zu denken. In Rahmen einer solchen Vorgabe kann man sich nicht einerseits freuen (oder erhoffen), dass das Gericht eine Maßnahme ablehnt/aufhebt/verbietet, so man andererseits selbst der Meinung ist, dass diese Entscheidung der Politik vorbehalten bleiben muss. Wenn unsere politische Klasse (fast) ausschließlich aus Hosenscheißern besteht, haben wir halt ein Problem, das wir Bürger selbst korrigieren müssen; da können wir uns nicht zurücklehnen mit der Attitüde "lass das mal die Gerichte machen".

Im Übrigen haben die Verfassungsrichter ja doch einige Pflöcke eingeschlagen, die uns (freilich nur in den geeigneten politischen Konstellationen) vor dem Allerschlimmsten bewahren könnten. Sie fordern eine substantielle Mitwirkung des deutschen Parlaments an den Entscheidungen und verlangen, dass Deutschland nicht gegen seinen Willen von den anderen europäischen Partnerländern zu bestimmten Aktionen gezwungen werden kann (meine Hervorhebungen):
"Die Hilfspakte müssen - so die obersten Richter - klar definiert sein und den Parlamentariern die Möglichkeit zur Kontrolle und auch zum Ausstieg geben. ..... Es reiche nicht aus, dass der Bundestag die Rahmenbedingungen beschließe und die Regierung dann bei der konkreten Ausgestaltung nur noch den Haushaltsausschuss informiere. Vielmehr dürften Hilfen künftig nur dann gewährt werden, wenn der Ausschuss vorher ausdrücklich zugestimmt habe. „Jede ausgabenwirksame solidarische Hilfsmaßnahme des Bundes größeren Umfangs“ müsse vom Bundestag im Einzelnen bewilligt werden, heißt es im Urteil. Auch bei der praktischen Verwendung der Mittel müsse ausreichender parlamentarischer Einfluss gesichert sein. ..... Erneut findet sich ein klares Nein gegen Mehrheitsentscheidungen in der EU, bei denen Deutschland überstimmt werden könnte und gezwungen wäre, gegen seinen Willen zu handeln."
Und eine ernste Mahnung haben sie der Politik ebenfalls mit auf den Weg gegeben:
"Die Vergemeinschaftung von Staatsschulden berge ein hohes Risiko für die Eigenverantwortung, urteilten die Richter."

Weitere Informationen zur Vorgeschichte der Entscheidung und zur generellen Linie des BVerfG in Sachen Deutschland - Europa enthält der heutige FAZ-Kommentar "Urteil über Euro-Rettung. Wider die Entleerung der deutschen Staatsgewalt" von  Reinhard Müller. Und den weiteren Kommentar "Das unantastbare Prinzip" vom gleichen Autor.
Unzufrieden mit dem Urteil ist dagegen Müllers Kollege Joachim Jahn: "Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Weg frei für ungehemmtes Euro-Retten":
"Dass das Bundesverfassungsgericht sich nicht zum Ersatzgesetzgeber aufschwingt, ist im Prinzip eine vernünftige Haltung. Der Bundestag – und damit auch die Regierung – wird von den Bürgern gewählt, um Politik zu machen. Einer kleinen Schar von Richtern steht dies nicht zu. Und selbst die juristischen Argumente der unterschiedlichen Klägergruppen mussten nicht allesamt überzeugen. Doch erkennbar herrschte in diesem Fall eine in Karlsruhe sonst höchst ungekannte Angst, sich die Finger zu verbrennen."

S. a. "Eine Ohrfeige für die Bedürftigen in unserem Land" bei der WELT.

Link zur Pressemitteilung des Gerichts und hier geht es zur (29-seitigen) Entscheidung selbst.

Etwas unschlüssig erscheint der SpiegelOnline-Kommentar von  David Böcking und Stefan Kaiser, der zwar im Titel tönt" "Bremse für die Euro-Retter", am Schluss aber eher kleinlaut ausklingt:
"Angesichts all dieser Vorbehalte fühlt sich auch Kläger Peter Gauweiler nicht als reiner Verlierer. "Das Euro-Rettungskartell hat heute seine Grenzen aufgezeigt bekommen", sagte er. Zwar erklärten sich die Richter in vielen Punkten für nicht zuständig - etwa in der Frage, ob die Rettungshilfen gegen die No-Bailout-Klausel verstoßen, laut der die Euro-Staaten nicht füreinander haften.  "Das bedeutet aber nicht, dass sie die Maßnahme gebilligt hätten", sagt Gauweiler. Seiner Ansicht nach spielt das Urteil den "Ball zurück ins Feld der Politik". Der CSU-Politiker wirft seinen Parlamentskollegen vor, sie hätten bei der Verabschiedung der Rettungsschirme wie schon beim Lissabon-Vertrag freiwillig auf Kontrollrechte verzichtet. Nun sollen sie bis zur Verabschiedung des erweiterten Rettungsschirms Ende des Monates möglichst viel davon zurückfordern. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts wird dabei wohl nur eine kleine Hilfe sein."

Substantieller ist der Beitrag "Euro-Urteil in Karlsruhe : Welche Folgen hat der Richterspruch?" von Jost Müller-Neuhof im Tagesspiegel:
"Die Richter sind zurückhaltend, EU-Rechtsakte zu kontrollieren. Und auch im aktuellen Urteil bleiben sie dabei. ..... Doch die Richter haben auch die Rolle des Volkes gestärkt: Artikel 38 Grundgesetz, das Wahlrecht, „schützt die wahlberechtigten Bürger vor einem Substanzverlust ihrer verfassungsstaatlich gefügten Herrschaftsgewalt durch weitreichende oder gar umfassende Übertragungen von Aufgaben und Befugnissen des Bundestages.“ Das war der Hebel, um Griechenlandhilfen und Rettungsschirm überhaupt erfolgreich vor Gericht angreifen zu können. Eigentlich folgt aus dem Wahlrecht kein Recht auf Kontrolle von Parlamentsakten, es sei denn, dessen eigene politische Gestaltungsmöglichkeiten würden dadurch „entleert“. Diese Gefahr, stellt das Gericht fest, droht auch bei einem Eingriff ins Budget. Wenn die EU an die deutsche Kasse geht, können die Bürger klagen – ein Urteil für das Volk, nicht nur für seine Vertreter."


Nachtrag 08.09.2011
Realistisch kritisert Paul Georg Hefty in seinem heutigen FAZ-Artikel "Im Parteienstaat ist das keine Hürde", dass die vom Bundesverfassungsgericht vorgeschriebene Mitwirkung auf Ausschussebene vor dem Hintergrund unserer politischen Realitäten lediglich auf ein Abnicken der Regierungsentscheidungen hinauslaufen wird.


Nachtrag 09.09.2011
Positiv bewertet der (patriotische) Brüsseler Journalist Detlef Drewes das Urteil in seinem Kommentar "Klares Urteil" auf der Webseite op-online (8.9.11):
"..... sollten alle die, die von Deutschland gern mit Hinweis auf die europäische Solidarität noch tiefere Griffe in die Haushaltskasse fordern, ... die Begründung genau lesen. Keine Bundesregierung darf per Scheckbuch die Probleme anderer lösen. Und ein Automatismus der Mithaftung beispielsweise über Euro-Bonds ist schon überhaupt nicht drin.Damit ist deutlich, dass Berlin in Brüssel nicht frei schalten und walten kann. Und das ist auch gut so. Denn die Gefahr, dass Deutschland in immer neue Abenteuer anderer Regierungen hineingezogen wird, wird derzeit niemand ernsthaft ausschließen können. Der Spruch aus Karlsruhe bedeutet deshalb auch eine scharfe Verwarnung an alle jene, die in Brüssel (oder Straßburg) immer neue rekordverdächtige Größenordnungen für den Rettungsschirm oder den künftigen dauerhaften Krisenmechanismus in die Runde werfen."


Nachtrag 10.09.2011
Zur Beurteilung der Entscheidung vgl. auch das Spiegel-Online Interview vom 07.09.2010 mit dem Europarechtler  unter dem (etwas irreführenden) Titel "Das ist schwer umzuwerfen".


Nachtrag 20.11.2011
In dem Interview "Degenhart: 'Weitere EU-Integration ist mit der Verfassung nicht vereinbar' " (Deutsche Mittelstands Nachrichten v. 20.11.11) antwortet der Staatsrechtler Christoph Degenhart (Inhaber des Lehrstuhls für Staats- und Verwaltungsrecht an der juristischen Fakultät der Universität Leipzig und Richter am sächsischen Verfassungsgerichtshof) auf die Frage der DMN "Würde Angela Merkel tatsächlich weitere Souveränität aufgeben, würde das Bundesverfassungsrecht sehr schnell einschreiten, oder?" (meine Hervorhebung):
"Das ist das große Fragezeichen. Das Bundesverfassungsgericht hat bisher zwar wirklich immer durchaus relevante Richtlinien aufgestellt, hat sich aber immer gescheut, diese dann im Einzelfall auch tatsächlich durchzusetzen. Sich hier allein auf das Bundesverfassungsgericht zu verlassen wäre nicht ratsam."So ist es, leider! Aber irgend wann werden die bellenden Hunde dann doch beißen müssen!
Bemerkenswert sind auch Degenharts Analysen zur Strategie der Regierung in Sachen europäische Integration:
"Es wird versucht werden, das ganze so schrittweise einzuführen, dass jeder Einzelschritt als solcher noch erträglich scheint, das Ergebnis aber eben doch einen unzulässigen Souveränitätsverzicht darstellt. Hier wird es darauf ankommen, den Prozess zu begreifen, und hier sind natürlich auch durchaus die Parlamente gefordert, aber nicht nur sie."
Weitergehende substantielle Integrationsschritte beurteilt er klar als verfassungswidrig, und nur durch eine verfassungsändernde Volksabstimmung einführbar:
"Ich sehe die angestrebte Wirtschaftsregierung mit Durchgriffsrechten gegenüber den Mitgliedsstaaten aus der Sicht des Grundgesetzes verfassungsrechtlich problematisch an – zumal auch nicht absehbar ist, diese Wirtschaftsregierung demokratisch verfasst sein könnte. Und auch durch Verfassungsänderung wäre sie nicht einzuführen. Wenn hier ein so entscheidender, weiterer Integrationsschritt getan werden sollte, also Aufgabe der Souveränität im Bereich Wirtschaft und Finanzen, die Begründung bundesstaatenähnlicher Strukturen, ist dies nur mit einer neuen Verfassung möglich, die wiederum eines Referendums bedürfte. Es ist meines Erachtens jetzt, und ich bin mit dieser Auffassung nicht allein, ein Integrationsstadium erreicht, bei dem wesentliche, weitere Schritte gerade auch im Bereich Wirtschaft und Finanzen auf der Grundlage der bestehenden Verfassungsordnung nicht mehr möglich sind."






Das Gerichtsurteil, bzw. meine Beurteilung dieses Urteils, ändern selbstverständlich nichts an meinem
"ceterum censeo":

Der Wundbrand zerfrisst das alte Europa,
weil es zu feige ist ein krankes Glied zu amputieren!

POPULISTISCHES MANIFEST
(für die Rettung von zwei Billionen Steuereuronen!):
Ein Gespenst geht um in Deutschland - das Gespenst einer europäischen Transferunion und Haftungsunion.
Im Herzland des alten Europa haben sich die Finanzinteressen mit sämtlichen Parteien des Bundestages zu einer unheiligen Hatz auf die Geldbörsen des Volkes verbündet:
·        Die Schwarzen Wendehälse (die unserem Bundesadler den Hals zum Pleitegeier wenden werden),
·        Die Roten Schafsnasen (vertrauensvoll-gutgläubig, wie wir Proletarier halt sind),
·        Die Grünen Postmaterialisten (Entmaterialisierer unserer Steuergelder wie unserer Wirtschaftskraft),
·        Die machtbesoffenen Blauen (gelb vor Feigheit und griechisch vor Klientelismus), und selbstverständlich auch
·        Die Blutroten (welch letztere die Steuergroschen unserer Witwen, Waisen und Arbeiter gerne auflagenlos, also in noch größerer Menge, gen Süden senden möchten).
Wo ist die Opposition im Volke, die nicht von unseren Regierenden wie von deren scheinoppositionellen Komplizen als Stammtischschwätzer verschrien worden wäre, wo die Oppositionspartei, welche sich der Verschleuderung der dem Volke abgepressten Tribute an die europäischen Verschwendungsbrüder wie an die unersättlichen Finanzmärkte widersetzt hätte?
Zweierlei geht aus dieser Tatsache hervor:
Das Volk wird von fast keinem einzigen Politiker als Macht anerkannt.
Es ist hohe Zeit, dass wir, das Volk, unsere Anschauungsweise, den Zweck unserer Besteuerung und unsere Tendenzen gegen die fortgesetzte Ausplünderung durch das Finanzkapital bzw. durch die Bewohner anderer Länder und durch seine/deren politische Helfershelfer vor der ganzen Welt offen darlegen und dem Märchen von dem grenzenlosen Langmut der Deutschen den Zorn des Volkes selbst entgegenstellen.

Textstand vom 20.11.2011. Gesamtübersicht der Blog-Einträge (Blotts) auf meiner Webseite http://www.beltwild.de/drusenreich_eins.htm. Soweit die Blotts Bilder enthalten, können diese durch Anklicken vergrößert werden.

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