Sonntag, 14. Februar 2010

Der Investitionsbegriff in der Volkswirtschaftslehre: Theologie oder Rumpelstilzchen-Invokation?


Im Forum der Uni-Protokolle für Volks- und Betriebswirtschaft wundert sich "berniebärchen" über meine Dummheit:
"... frage ich mich, wie man eine ellenlange Webseit erstellen kann, um über alle möglichen und unmöglichen Wirtschaftsprobleme unfachmännisch bzw. unwissenschaftlich zu diskutieren, und danach anfängt zu fragen, wie eigentlich diverse Grundbegriffe zu diesem Thema zu verstehen sind."

Die "ellenlange Webseite" bezieht sich auf meine Webseite "Rentenreich", auf der ich (in der Tat "ellenlange") Überlegungen zur Finanzierung der Altersrenten (Umlageverfahren vs. Kapitaldeckungsverfahren) anstelle.

Den Grundbegriff, dessen Inhalt mir nach seinem Eindruck unbekannt war, hatte ich unter dem Titel "Was ist Investition" zur Debatte gestellt.
Überschriften vereinfachen zwangsläufig; selbstverständlich weiß ich, was Investition ist. D. h.: ich glaubte es zu wissen, bis ich mich näher mit zwei Reden des US-Notenbankpräsidenten Ben Bernanke beschäftigte, in denen er die These von einer weltweiten "saving glut" (Sparschwemme) als Mitursache des amerikanischen Zahlungsbilanzdefizits entwickelt.

Insgesamt hat er dem Thema mindestens 3 Reden gewidmet:

- Die erste vom 10.03.2005 ist betitelt "The Global Saving Glut and the U.S. Current Account Deficit".

- Die zweite (die ich nicht gelesen habe, weil es sich wohl nur um eine Wiederholung der ersten mit aktualisierten Zahlenangaben handelt, trägt den gleichen Titel und wurde am 14.04.2005 gehalten.

- Seine dritte Rede zum Thema hat Ben Bernanke in Deutschland gehalten, und zwar "at the Bundesbank Lecture, Berlin, Germany", am 11.09.2007 unter der Überschrift "Global Imbalances: Recent Developments and Prospects".

Die Reden sind gut formuliert und allgemein verständlich. Unverständlich war mir aber seine Gleichsetzung von Ersparnis und Investition:

"... in a closed economy investment would equal national saving in each period." (1. Rede)

"... for the world as a whole, total saving must equal investment." (3. Rede)

Denn für das Alltagsverständnis liegt es ja auf der Hand, dass Ersparnis und Investition keineswegs gleich sein müssen und in der Realität kaum jemals gleich sein werden: Geld zum Beispiel, welches in der Spardose liegt, wird nicht investiert. Nun werden dort zwar nicht gerade größere Geldsummen liegen und man könnte sagen, die Beträge seien zu vernachlässigen. Selbst wenn es so wäre, würde das aber keine definitorische Schlamperei rechtfertigen.
Tatsächlich dürfte sehr viel Geld "arbeitslos" herumliegen. Nicht gerade im heimatlichen Sparschwein, sondern gerade dort, wo doch nach allgemeiner Meinung das Geld "arbeitet", nämlich im Finanzsystem. Dort kann es zwar weiter verliehen und dadurch sogar vermehrt werden (multiple Geldschöpfung durch Kreditvergabe). Aber einerseits müssen die Banken auch Barreserven vorhalten. Und zum anderen lässt sich schon aus dem gewaltigen Umfang des Derivatehandels erschließen, dass große Geldmengen offenbar einfach so im Finanzsystem herumwandern, ohne jemals wieder Kontakt zur Realwirtschaft zu haben. Mithin kann es nicht sein, dass alles Geld entweder verkonsumiert oder investiert wird.

Die Wirtschaftswissenschaft (oder nur eine bestimmte "Schule" der Nationalökonomie?) will es aber so. Wenn ich aber bei den Uni-Protokollen z. B. den Forenfaden "Sparen = = Investieren?" aus dem Jahr 2006 lese, oder eben den o. a. von mir eröffneten aus dem Jahr 2010, dann sehe ich, dass sich zumindest die Jungfüchse der Zunft, vermutlich aber auch ältere Semester, schwer damit tun.

In der deutschsprachigen Wikipedia findet man Erläuterungen, von denen aber keine befriedigen kann unter mindestens -3- Begriffen:
- "Sparen",
- "Investition(Volkswirtschaftslehre)" und
- "Gütermarktgleichgewicht".
Wenn dort aber ein "mathematischer Beweis" für die I = S - Identität angeboten wird darf man folgern, dass der/die Autor(in) sie nicht verstanden hat.
Es handelt sich nämlich um eine "definitorische Identität", und was durch Definition festgelegt wird, kann nicht bewiesen werden (sonst müsste es eine von der - per definitionem willkürlichen - Definition unabhängige Realität haben).

Wenn man Investition einfach als das definiert, was vom Volkseinkommen einer bestimmten Periode nach Abzug der Konsumausgaben (und, sofern man diesen separat behandeln will, des Staatsverbrauchs) übrig bleibt, und Ersparnis ebenfalls als das, was vom Volkseinkommen nach Abzug der Konsumausgaben übrig ist, dann sind Investition und Sparen per definitionem identische Größen.
Sehr schön dargestellt hat das Prof. Dr. Dr. Gerhard Merk in seinem Artikel "Einige Bemerkungen zur Investition". Der Aufsatz stammt schon aus dem Jahr 1958 (damals war der Autor noch nicht Professor), ist aber dankenswerter Weise noch heute auf seiner Webseite (die auch sonst viele interessante Texte enthält, z. B. ein voluminöses "Lexikon der Finanzbegriffe") zugänglich. Leider ist der Text des Investitions-Aufsatzes passwortgeschützt, sonst hätte ich den einschlägigen Teil (S. 3 oben) hier wiedergegeben.
Doch scheint mir, dass sich der Autor ebenfalls in den unterschiedlichen möglichen Wortbedeutungen von "Investition" verheddert wenn er sagt:
"Endlich muss darauf hingewiesen werden, dass die Gleichheitsbedingung nicht besagt, die Ersparnisse bedeuten immer Investitionen."
Hier legt er nämlich den gängigen Investitionsbegriff zu Grunde, also "Geld in den Aufbau von Produktionskapazität stecken". Das soll ja angeblich auch der Vorteil des Kapitaldeckungsverfahrens gegenüber dem Umlageverfahren sein, dass mehr investiert wird. (Nur erfahren wir u. a. in den o. a. Reden von Ben Bernanke, dass die Investitionen in diesem Sinne stark zurück gegangen sind, so dass, wie wir inzwischen ja auch alle mitbekommen haben, das gesparte Geld der Welt (ganz besonders der Industrieländer - deutsche Landesbanken! -; die Asiaten waren nicht so doof, die haben brav US-Staatsanleihen gekauft, mit niedrigeren Zinsen, aber sichererer Tilgung) die amerikanischen "Investitionen" in Wohnimmobilien finanziert hat.
Die stehen jetzt rum und produzieren nichts. Statistisch rechnen sie aber, wie Ben Bernanke seinen Hörern erklärt, zur Kategorie der Investitionen.

Wir haben es also anscheinend mit -3- verschiedenen Investitionsbegriffen zu tun:

1) Der "normale" Investitionsbegriff von "Geld in Produktionsmittel (auch Infrastruktur usw.) stecken".

2) Der statistische Investitionsbegriff der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, der den Wohnungsbau einschließt. Sicherlich kann man diesen nicht dem Konsum zurechnen. Aber da die Wohnungen keine Produktionsmittel sind, halte ich die Zuordnung zur Kategorie der Investitionen für irreführend. Hier müsste eigentlich eine eigene Kategorie "Wohnimmobilien" eingeführt werden.
Was dabei herauskommt, wenn massiv in Wohnimmobilien "investiert" wird anstatt in Produktionsmittel, beschreibt Ben Bernanke in seiner ersten Rede so:
"However, in the long run, productivity gains are more likely to be driven by nonresidential investment, such as business purchases of new machines. The greater the extent to which capital inflows act to augment residential construction and especially current consumption spending, the greater the future economic burden of repaying the foreign debt is likely to be".
Nun wäre es sicherlich abenteuerlich zu glauben, die USA hätten sich aufgrund der statistischen Zuordnung über die relativ geringe 'echte' Investitionsquote getäuscht. Was Bernanke wusste:
"... investment by businesses in equipment and structures has been relatively low in recent years (for cyclical and other reasons) ..."
das müsste auch den Fachleuten in der US-Regierung aufgefallen sein. Dennoch halte ich es schon für wichtig, dass die Höhe der echten Investitionsquote auf den ersten Blick erkennbar ist, und nicht erst von Fachleuten aus dem Datenmaterial herauspräpariert werden muss. Nur wenn die Begriffe sauber und für eine breite Öffentlichkeit nachvollziehbar abgegrenzt sind, kann der Durchschnittswähler erkennen, dass bzw. wenn etwas schief läuft.

3) Weitaus perverser ist freilich der 3. Investitionsbegriff, den ich oben erläutert habe und der einfach als Restgröße alles umfasst, was nicht für den Verbrauch ausgegeben wird. Hier wird die Öffentlichkeit durch die Gleichsetzung von Investition und Ersparnis noch weitaus mehr getäuscht. "Konsum" sind Ausgaben, mit denen Güter (und Dienstleistungen) erworben werden. "Investitionen" in diesem Sinne sind aber nicht notwendiger Weise Ausgaben, weil sie eben auch - tja, was eigentlich umfassen?
Welche realen Werte stehen denjenigen Geldbeträgen gegenüber, die als ein Teil der "Ersparnis" nicht im engeren (natürlichen) Sinne "investiert" werden(d. h. wo die Wirtschaftssubjekte ihr Geld nicht ausgeben, sondern unter welchen Matratzen bzw. heute eher in welchen Deponien der Finanz"industrie" sie ihr Geld "parken".)?

Darüber belehrt uns das Wikipedia-Stichwort "savings identity" wie folgt (meine Hervorhebungen):
"... this is an 'identity', meaning it is true by definition. This identity only holds true because investment here is defined as including inventories. Thus, should consumers decide to save more, and spend less, the fall in demand would lead to an increase in business inventories."
Die "Investitionen" lassen in diesem Falle also die Läger anschwellen; das hat ökonomisch-logisch zur Folge
"... this does not imply that an increase in savings must lead directly to an increase in investment. Indeed, business may respond to increased inventories by decreasing both output and intended investment. Likewise, this reduction in output by business will reduce incomes, forcing an unintended reduction in savings."
Aber
"Even if the end result of this process is ultimately a lower level of investment, it will nonetheless remain true at any given point in time that the S=I identity holds."

An einem Beispiel nachvollziehbar dargestellt ist der Sachverhalt - unverkäufliche Lagerbestände als Gegenwert für nicht ausgegebenes Geld - z. B. in einer Vorlesungsunterlage von Diplom-Volkswirt Matthias Peistrup, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Verkehrswissenschaft (IVM), zum Thema "Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung" und zwar in dem Abschnitt "Ex-post Identität von Investition und Ersparnis" (S. 26 der Paginierung bzw. S. 13 des pdf-Dokuments).


Dass sich die Wirtschaftswissenschaft in solch perversen (wohl angebotstheoretisch emotivierten) Begrifflichkeiten und statistischen Erfassungskategorien gelegentlich selbst verheddert, kann nicht überraschen. Verwunderlich ist nur, dass in der Öffentlichkeit nicht massiv eine ideologiefreie und auch für breite (interessierte) Kreise unmittelbar einleuchtende Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung eingefordert wird.
Angesichts der herrschenden Strukturen, bei denen es anscheinend bestimmten volkswirtschaftlichen Schulen gelungen ist, ihre Lehrmeinung bereits in die Gliederungsstruktur der Datenerfassung einzuschmuggeln, ist es nicht verwunderlich, dass die Mainstream-Ökonomen die Finanzkrise nicht vorhergesehen haben.


Nachtrag 19.02.2010
Prof. Dr. Wilhelm Lorenz von der Hochschule Harz in Wernigerode hat dankenswerter Weise ein umfangreiches "Lehrbuch" der Makroökonomie online gestellt (wie übrigens auch eines zur Mikroökonomie). In unserem Zusammenhang ist das Kapitel "Der Kreislaufgedanke" von Interesse. Ich habe lediglich die Kapitel 2.2.2 - 2.2.4 seines Online-Lehrbuchs gelesen; seine Darstellung ist wirklich sehr verständlich gehalten. Wer sich, als Laie oder Student in den Anfangssemestern (für diese ist die Darstellung wohl hauptsächlich gedacht) über die wesentlichen Begriffe der Wirtschaftswissenschaft (in den o. a. Kapiteln insbesondere über Konsum, Sparen und Investieren im Rahmen der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung) informieren möchte (und genügend Zeit hat), dürfte mit diesem Werk gut bedient sein.


Textstand vom 14.03.2024

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