Donnerstag, 7. Januar 2010

Die Ökonomie der Artos-Phagen: Warum eine eigentumsbasierte Geldwirtschaft nicht dauerhaft funktionieren kann - im Basismodell

Den nachfolgenden Text hatte ich großenteils bereits in meinem Blott "Nouriel Roubini: Aus Dr. Doom wird Dr. Zoom" vom 31.12.09 publiziert. Es hat sich aber nunmehr herausgestellt, dass das dort entwickelte Modell einer Brotfresser-Ökonomie (Artos-Phagie) für mein Denken über die Wirtschaftskrise (und über das Wirtschaften überhaupt) zu wichtig ist, um unter einem ganz anderen Titel und überwuchert von einer allzu üppig geratenen Verpackung verborgen zu bleiben.

Deshalb habe ich ihn hier noch einmal unter einer eindeutigen Überschrift und in korrigierter Form eingestellt, auch um in späteren weiteren Blotts darauf Bezug nehmen zu können.


Welche Wirkmechanismen insgesamt hinter unserer eigentumsbasierten Geldwirtschaft (Kapitalismus) stehen, lässt sich in einem Grundmodell vielleicht am Beispiel eines ganz simpel gedachten "Wirtschaftssystems" demonstrieren, für welches [kontrafaktisch und bibelfern ;-)] gelten soll:
"Der Mensch lebt nur vom Brot allein".
Das System soll zunächst aus -3- selbständigen Wirtschaftssubjekten bestehen (Ausgangsmodell):
- Der Bauer Korn produziert Getreide,
- Müller Mühlstein verarbeitet dieses zu Mehl weiter und
- Bäcker Ofen macht Brot daraus.
Von diesem Brot leben alle drei. Da wir den Zusammenhängen in einer Geldwirtschaft auf die Spur kommen wollen nehmen wir an, dass unsere drei Produzenten ihre Waren nicht naturalwirtschaftlich tauschen, sondern für jeden Eigentumsübergang vom einen auf den anderen einen Kaufpreis in Geld entrichten. Im übrigen soll jedes Wirtschaftssubjekt die gleiche Menge an 'Arbeitswert' hinzufügen, d. h. der Preis erhöht sich auf jeder Verarbeitungsstufe um den Ausgangswert.
Es kommt zu folgenden Transaktionen:
1) Korn verkauft Getreide für 1.000,- € an Mühlstein.
2) Mühlstein verarbeitet dieses zu Mehl und verkauft das Mehl für 2.000,- € an Ofen.
3) Ofen verarbeitet das Mehl zu Brot in einem Gesamtwert von 3.000,- €; einen Anteil im Wert von 1.000,- € verzehrt er selbst (natürlich ohne eine finanzielle Transaktion mit sich selbst zu veranstalten). Brot im Werte von jeweils 1.000,- € verkauft er an Korn und Mühlstein.
Danach haben wir folgende Kontenstände:
4) Korn hat kein Geld mehr, weil er die 1.000,- € von Mühlstein an Ofen "weitergeleitet" hat.
5) Mühlstein hat noch 1.000,- €. Von seiner Einnahme von 2.000,- hat er 1.000,- für Brot wieder an den Bäcker bezahlt. Mit den verbleibenden 1.000,- € wird er den Bauern bei der nächsten Getreidelieferung bezahlen müssen, nach welcher er ebenfalls kein Geld mehr übrig hat.
6) Der Bäcker hat jetzt vom Bauern und Müller jeweils 1.000,- eingenommen, besitzt also 2.000,- €. Die aber muss er bei der nächsten Mehllieferung an Mühlstein 'abliefern', wonach er zunächst ebenfalls geldlos ist.
Das Geld läuft in diesem System also in einem perfekten Kreislauf um (die Ware dagegen wird nach Zwischenstufen der Bearbeitung letztlich verbraucht und muss neu produziert werden). Das scheint mir schon ein ganz brauchbares Grundmodell für unsere arbeitsteilige und mit Geldtransaktionen arbeitende Wirtschaft zu sein.
Es funktioniert auch vorzüglich - sogar allzu reibungslos, um uns über mögliche Störfaktoren Aufschluss geben zu können. Ich lasse "exogene" Faktoren, wie z. B. schwankende Mengenerträge der Getreideernte, mal beiseite, weil es hier um die Frage geht, ob im Konstruktionsschema des Geldsystems oder des Kapitalismus' als solchem potentielle Störfaktoren angelegt sind.
Dies ist in der Tat der Fall: wenn das Geld abgesogen wird, kommt unsere Brotesser-Ökonomie zum Erliegen. Eine Geldentnahme aus meinem System lässt sich in naher Anlehnung an die Wirklichkeit auf dreierlei Weise modellieren:

Variante I.) Der Staat zieht Steuern ein (und/oder die Mafia Schutzgelder). Das ist für die Funktionsfähigkeit des Geldkreislaufs kein Problem, wenn a) genügend Überschüsse im System vorhanden sind, also die Produktiven nicht verhungern müssen (in unserem Beispiel könnten wir z. B. die Mengen, repräsentiert durch die unveränderlich gedachten Preise, verdoppeln) und b) der Staat und/oder die Mafia ebenfalls Brot für das Geld kaufen, es also vollständig wieder in das System einspeisen.

Schwierigkeiten für ein reibungsloses Funktionieren ergeben sich in den beiden folgenden Modellen, die (ebenfalls in enger Anlehnung an unsere ökonomische Realität) eine teilweise Entnahme von Geld aus dem Kreislauf vorsehen und dieses nur leihweise, also im Kreditwege, wieder einspeisen.
Interessanter Weise liegen die möglichen Problemursachen hier teilweise schon im Geldsystem als solchem begründet (bzw. genauer im Sparen, das also volkswirtschaftlich durchaus janusköpfig sein kann). Allerdings verschärfen sie sich potentiell in einem kapitalistischen System, also bei Fremdbesitz der Produktionsmittel.
[Irgendwo meine ich gelesen zu haben, dass z. B. die scholastischen Philosophen das Laster der "avaritia", des Geizes (oder der Habsucht) eben wegen der umlaufhemmenden Wirkung in der Geldwirtschaft verdammt haben. Eine flüchtige Stichwortsuche (auch z. B. zum Thema "Staatsanleihen") lässt eine nähere Beschäftigung mit der scholastischen Wirtschaftswissenschaft durchaus interessant erscheinen, doch mangelt es mir dazu einerseits an Zeit, andererseits an Lateinkenntnissen. Wer beides hat, wird vielleicht aus einer Lektüre des Buches "Geschichte der Nationalökonomie, herausgegeben von Geh. Hofrat Professor Dr. Karl Diehl. Erstes Heft: Die volkswirtschaftlichen Anschauungen der Scholastik seit Thomas v. Aquin" von Dr. Edmund Schreiber aus dem Jahr 1913 einen Erkenntnisgewinn ziehen.]

Variante II.) Unsere weiterhin als selbständig gedachten -3- Wirtschaftssubjekte (Staat und Mafia denken wir uns wieder weg) produzieren die doppelten Mengen/Beträge und damit Überschüsse. Wenn also Bauer Korn von Müller Mühlstein 2.000,- € erhalten hat, aber nur 1.000,- benötigt, um seinen Brotbedarf (jeweils für eine gegebene Periode, meinetwegen von Ernte zu Ernte) zu decken, kann er die überschüssigen 1.000,- € entweder investieren, indem er z. B. das Brot an ein Schwein verfüttert, um später neben Getreide auch Schweinefleisch zu verkaufen. Alternativ kann er den Überschuss aber auch auf die hohe Kante legen und genau das tut er in unserem Modell. Dann sieht unser Systemzustand so aus:
1) Korn verkauft Getreide für 2.000,- € an Mühlstein.
2) Mühlstein verarbeitet dieses zu Mehl und verkauft das Mehl für 4.000,- € an Ofen. Im Gegenzug kauft er diesem für (nur) 1.000,- € Brot ab, so dass er ebenfalls 1.000,- € spart.
3) Ofen verarbeitet das Mehl zu Brot in einem Gesamtwert von 6.000,- €. Einen Anteil im Wert von 1.000,- € verzehrt er selbst (natürlich ohne eine finanzielle Transaktion mit sich selbst zu veranstalten); eine weitere Menge im Wert von 1.000,- € nimmt er auf Lager, weil er dafür keine Abnehmer hat. Brot im Werte von (nach wie vor nur:) jeweils 1.000,- € verkauft er an Korn und Mühlstein.
Danach haben wir folgende Kontenstände:
4) Korn hat 1.000,- € von den von Mühlstein erhaltenen 2.000,- € an Ofen "weitergeleitet" (Brot von ihm gekauft); die überschüssigen 1.000,- € hat er im Kopfkissen versteckt.
5) Mühlstein hat von den von Ofen erhaltenen 4.000,- € an Korn 2.000,- für Getreide weitergeleitet und 1.000,- für Brot an Ofen gezahlt; auch er hat also noch 1.000,- € unter der Matratze liegen.
6) Ofen hat von Korn und Mühlstein jeweils 1.000,- für das Brot erhalten; in der nächsten Runde kann er demnach nur noch für diese insgesamt 2.000,- € Mehl einkaufen (dass er außerdem noch Brot im Wert von 1.000,- € gelagert hat nützt ihm nichts, weil wir Tauschhandel in unserem System ausschließen und weil ohnehin für diesen Brotüberschuss keine Nachfrage besteht).
Wie sieht die weitere Entwicklung in unserem System aus? Wir sind jetzt wieder auf dem Subsistenzniveau unseres Ausgangsmodells angelangt; die 2.000,- € werden weiterhin im System kreisen, weil die Wirtschaftssubjekte auf diesem Niveau keine Sparmöglichkeit mehr haben.

Variante III.) In dieser Abwandlung des Ausgangsszenarios führen wir endlich den (von meinen Leserinnen und Lesern zweifellos sehnlichst erwarteten) Kapitalisten ein. Diesem gehören sämtliche Produktionsmittel (der Boden des Bauern, die Mühle des Müllers und das Backhaus des Bäckers); er verlangt dafür Miete (= "Zins" im weitesten - und früheren - Sinne). Entsprechende Überschüsse in der Produktion wiederum vorausgesetzt ist die Situation dann zunächst nicht anders, als wenn der Staat Steuern abzwackt (beide Varianten lassen sich, bei entsprechend höherem Surplus, natürlich auch kombinieren). Ein Problem entsteht dann, wenn der Kapitalist spart. Sagen wir er verlangt von jeder Transaktion 20% und gibt davon nur 10% aus. Es ist unmittelbar einleuchtend, dass auf diese Weise auf die Dauer das Geld aus der Wirtschaft herausgesogen wird. Aber als anständiger Kapitalist, der er nun einmal ist, will er sein Geld ja arbeiten lassen. Spätestens dann, wenn die Geldmenge unter jenes Niveau gefallen ist, das für Transaktionen auf dem Level des Existenzbedarfs benötigt wird, müssten sich unsere produzierenden Wirtschaftssubjekte verschulden, indem sie beim Kapitalbesitzer Kredit aufnehmen. Leider müssen sie jetzt nicht mehr nur 20% an den Finanzier abführen, sondern zusätzlich noch Kreditzinsen. Selbst also dann, wenn sie durch die Kreditaufnahme ihr Transaktionskapital und in der Folge ihr Transaktionsvolumen wieder auf das Ausgangsniveau bringen konnten, kommen sie davon bald wieder herunter. So wie sich der Kalk auf den Sinterterrassen von Pamukkale anlagert, hat sich nämlich das Geld erneut bei dem Kapitalbesitzer gesammelt. Immer weniger kreist in der Realwirtschaft, weil der Eigentümer der Produktivgüter ja bei jeder Transaktion eine Abgabe verlangt, dieses Geld aber nicht als Tauschgeld verwendet, sondern dauerhaft als Wertaufbewahrungsmittel versteht.
Dieses Mal wird der Kapitalbesitzer den Arbeitenden auch keinen Kredit mehr geben, weil sie ihm ja bereits aus der früheren Verschuldungsrunde (zwar Zinsen gezahlt haben, aber) die Forderung nicht mehr tilgen konnten.

In dieser Lage könnte man ein Spiegelbild der aktuellen Situation in der Finanzkrise vermuten, aber im Moment geht es mir nur um allgemeine Überlegungen zur Funktionsweise einer kapitalistischen Geldwirtschaft.
[Wer etwa konkrete Zahlen über die schon im Jahre 2000 erschreckend hohe Verschuldung insbesondere der Geringverdiener in den USA lesen möchte, sowie auch einige andere sehr informative Daten zum damaligen Stand der Wirtschaft, kann diese in der Monthly Review vom Mai 2000 in dem Artikel "Working Class Households and the Burden of Debt" finden, der von den beiden Herausgebern Harry Magdoff und John Bellamy Foster verfasst wurde. Man wundert sich, wie das amerikanische Finanzsystem dann noch 7 oder 8 Jahre (je nachdem, an welchen Ereignissen man den Zusammenbruch festmachen will) weitermachen konnte, bis der Crash offenkundig wurde. Aktualisiert hat Foster die Daten aus dem Jahre 2000 in einem Aufsatz aus dem Jahr 2006 u. d. T.: "The Household Debt Bubble" vom Mai 2006. (Auch sonst sind die Foster-Texte - aus einer marxistischen, aber nach meinem Eindruck undogmatischen Perspektive geschrieben - vorzüglich, so z. B. das Interview "The "Great Financial Crisis": A whole new kind of struggle is emerging" vom 27.02.2009]
["43% – Number of U.S. families that spend more than they earn" erfahren wir (neben anderen statistischen Informationen) auf einer Webseite www.credit-advisors.com
Ein Karl Denninger zeigt auf der Webseite www.market-ticker.org in seinem Beitrag "A Short Treatise On The USeless Economy" ein hübsches Video, in welchem unsere Welt sich selbst in einem schwarzen Loch verschluckt. Neben Zahlen und einer Graphik zum Stand der Verschuldung offeriert er einen Satz, den man sich merken sollte (und der natürlich so oder anders auch auf vielen anderen Webseiten zu lesen ist) (Hervorhebung im Original): "... the borrowing capacity of both business and consumers has hit the wall. There simply isn't the ability to "buy more, pay later" given the actual earnings output of actors in the economy - yet that is the prescription that is required to continue to produce and consume beyond our means."]

Für meine Zwecke reicht es hier, dass ich den Beweis der Funktionsunfähigkeit einer kapitalistischen Wirtschaft geführt habe. Wenn man den häufig und m. E. durchaus zutreffend verwendeten funktionalen Vergleich von Geld in der Wirtschaft mit Blut im Kreislauf zu Grunde legt könnte man die eigentumsbasierte Geldwirtschaft auch als ein System des MONETÄREN VAMPIRISMUS charakterisieren.

Es ist indes meiner Aufmerksamkeit nicht entgangen, dass der Kapitalismus über lange Jahre - mindestens gut 60 Jahre nach dem 2. Weltkrieg - gar nicht schlecht funktioniert hat, was auf den ersten Blick im Widerspruch zu meinen Vorstellungen von den Auswirkungen der Geldwirtschaft zu stehen scheint.

Der Widerspruch ist nur ein scheinbarer und lässt sich auflösen indem man annimmt, dass das Grundmodell unserer kapitalistischen Geldwirtschaft in der Tat nicht über längere Zeit funktionieren kann, dass aber in der Praxis eine ganze Reihe von Umständen hinzukommen, welche die Mängel des Grundsystems zumindest über einen längeren Zeitraum hin ausgleichen.

Der Nutzen einer solchen Betrachtungsweise könnte im Zusammenhang mit der aktuellen Wirtschaftskrise darin liegen, dass nicht die Krise der 'schwarze Schwan', ein eigentlich gar nicht zu erwartendes und unerklärliches Ereignis ist. Erklärungsbedürftig wäre vielmehr zunächst, wieso überhaupt der Kapitalismus in der Praxis ganz gut funktioniert hat, obwohl doch die Kapitalisten laufend Geld aus der Realwirtschaft herausziehen, was theoretisch zu deren Zusammenbruch führen müsste. ("Herausziehen" meint sparen; dass sie einen Teil des Konsumpotentials der Produzierenden für sich selbst "abzweigen", ist hier irrelevant, weil es in meiner Argumentation nicht um Moral oder Gerechtigkeit geht, sondern um die theoretische Funktionsfähigkeit eines Geldsystems. Die ist auch dann gesichert, wenn "Parasiten" ihre leistungslosen Einkommen für ihren Konsum ausgeben, denn dadurch speisen sie das den Produzenten abgezwackte Geld ja wieder in den Kreislauf ein.)
Zu denjenigen Umständen, welche den Grundfehler der Geldwirtschaft (nämlich die Anfälligkeit der Realwirtschaft für ständige 'Blutentnahmen' zu Gunsten der Finanzwirtschaft) jedenfalls temporär neutralisieren, dürften zählen:
- Investitionen des Kapitalisten in die Realwirtschaft wohl an erster Stelle; auch dieses Geld fließt ja wieder in den Kreislauf
- Wachstum des Gesamtsystems (durch Populationszunahme und/oder Produktivitätszuwächse)
- Inflation (die das Finanzvermögen im Verhältnis zum Güterangebot verringert)
- Steuern auf Kapitaleinkommen und Kapitalvermögen (die das Finanzvermögen gleichfalls verringern)
- Kriege (mit derselben Funktion)
- die Giralgeldschöpfung, die ich in meinem Modellen gänzlich außen vor gelassen habe, weil mir deren Auswirkungen im Rahmen des Modells einfach unklar sind
- und vielleicht noch eine Reihe anderer Umstände (welche Rolle spielt die Verteilung der unterschiedlichen Ereignisse in der Zeit???).

Klärungsbedürftig im Hinblick auf die aktuelle Krise wäre dann, ob und ggf. welche Elemente, die früher zum Funktionieren unserer Geldwirtschaft beigetragen haben, momentan weggefallen oder stark abgeschwächt sind und ob es sich nur um ein vorübergehendes Aussetzen handelt, oder ob sich (aus welchen Gründen auch immer) die Bedingungen fundamental derart gewandelt haben, dass das System zukünftig unmöglich in der gewohnten Weise funktionieren kann. (Insoweit könnte man, wie Keynes schon vor 80 Jahren, z. B. an eine Sättigung des Produktionsniveaus in den entwickelten Ländern denken, die es unmöglich macht aus weiteren realwirtschaftlichen Investitionen noch nennenswerte Erträge zu erzielen - die berühmte "euthanasia of the rentier", der "sanfte Tod des Rentners", wie der erste deutsche Übersetzer formulierte).
Klar ist, dass die Wirtschaftswissenschaft (jedenfalls der Mainstream) keine adäquaten Vorstellungen der tieferen Ursachen der Krise hat und erst Recht keine wirklich überzeugenden Rezepte zu deren Bekämpfung.


Unstreitig habe ich hier keinen Vollbeweis dafür geführt, dass es letztlich dieser in meinem Artos-Phagen-Modell entwickelte Funktionsmechanismus des Zinssystems ist, welcher der aktuellen Weltfinanzkrise und 2. Weltwirtschaftskrise zu Grunde liegt. (Zins verstehe ich hier im weitesten Sinne unter Einschluss jeglicher Arten von Gewinnen und 'Nutzungsgebühren' für die Nutzung von Produktionsmitteln usw. Der Begriff Zins ist also vorliegend noch etwas breiter als z. B. in dem einschlägigen Wikipedia-Artikel). (Erg. 30.07.11: Vgl. zum Zinsbegriff jetzt meinen Blott "Der "Eigentrag" oder: Der Zins besteht nicht nur aus Zinsen - und nicht alle Zinsen sind ein Zins".)
Immerhin substantiiert aus meiner Sicht der hohe Verschuldungsgrad der USA, insbesondere der US-Verbraucher, in Verbindung mit der Tatsache dass Amerika in diesem Zustand die "Konjunkturlokomotive" der Welt war, die Annahme, dass zunehmend 'Tauschmittel-Geld' aus dem System herausgezogen und als 'Kreditgeld' wieder hereingegeben wurde. Im übrigen habe ich nach wie vor den Verdacht, dass das Finanzsystem selbst Geld geschöpft hat  und sich diese ungedeckte Rechnung jetzt vom Staat und der Realwirtschaft - über höhere Zinsspannen - bezahlen lassen will.
(Erg. 8.4.13 Zur Klarstellung: Hier meine ich nicht die normale Giralgeldschöpfung durch Kreditvergabe im Zusammenhang mit realwirtschaftlichen Transaktionen, sondern reine Finanztransaktionen. Ich vermute auch, dass die Finanzwirtschaft in diesem Zusammenhang eine Ausweitung der Zentralbankgeldmenge "erzwungen" hat, d. h. dass es rein finanzwirtschaftliche Mechanismen gibt, welche für die Notenbanken eine Geldmengensteigerung weit oberhalb des Wirtschaftswachstums + Inflationsrate unausweichlich machen. Und welche zu einer leistungslosen Bereicherung der Finanzwirtschaft führen.)
Meine Vermutung betr. Geldschöpfung scheint der FAZ-Artikel "Retter, die alles noch schlimmer machen" von Wilhelm Hankel vom 4.1.10 zu bestätigen: "Banken gewährten sich wechselseitige Kredite in durch keine Kontrolle begrenzter Höhe. ..... eine schier unerschöpfliche Finanzierungsbonanza, jenseits aller Quellen und Begrenzungen realer (und somit „echter“) Kapitalbildung durch Sparen und Ausgabeverzicht.")
Es könnte sein, dass meine Sicht einer zunehmenden Kapitalextraktion auf andere Weise denjenigen Beobachtungen entspricht, die Elmar Altvater in seinem Aufsatz "Inflationäre Deflation oder die Dominanz der globalen Finanzmärkte" (2004, Zeitschrift "PROKLA" Nr. 134; hier der komplette Band mit dem - prophetischen - Titel "Schwerpunkt: Die kommende Deflationskrise?") über die Entwicklung seit den 80er Jahren gemacht hat und die er wie folgt zusammenfasst (meine Hervorhebungen):
"Die Preisdeflation bei Gütern und Diensten ist paradoxerweise begleitet von einer Steigerung der Preise des Kapitals, der Realzinsen nämlich. Die „inflationäre Deflation“ ist vor allem eine Folge der Konkurrenz von Währungen auf globalen Finanzmärkten. Die Stabilität des Geldwerts und die Höhe der Renditen von Finanzanlagen sind dabei zentrale Parameter. Hohe Realzinsen als Folge restriktiver Geld- und Fiskalpolitik und sinkender Preise tragen dazu bei, dass Akkumulation und Wachstum finanziell unterdrückt werden („financial repression“). Wenn die Realzinsen oberhalb der realen Wachstumsrate des BIP liegen – und dies ist seit Anfang der 1980er Jahre der Fall -, dann werden Schuldner strukturell überfordert. Die Schuldenkrise der 1980er Jahre und die Finanzkrisen des vergangenen Jahrzehnt lassen den Eindruck entstehen, dass eine Art post-moderner „Plünderungskapitalismus“ entsteht."



Auf mein o. a. Modell bin ich einigermaßen stolz. Nicht dass ich es wäre, der diese Fehlfunktion entdeckt (oder als erster behauptet) hätte.

Aber zum einem habe ich jetzt zum ersten Mal das Gefühl, einen Hauch von Land in den Wogen der Wirtschaftsdebatten zu sehen, das Ende von einem Faden erwischt zu haben, mit dem sich das dichtmaschige Gewebe des ökonomischen Obskurantismus der Mainstream-Wirtschaftswissenschaft aufribbeln lässt.


Zum anderen ergibt sich aus den o. a. Überlegungen eine praktische Konsequenz, die sich von anderen "radikalen" Rezepten (Schwundgeld, Zwangsentschuldung zu Lasten der Banken usw.) unterscheidet (welche im Ergebnis lediglich die Geldbesitzer und/oder Kreditgläubiger 'besteuern'): Der Staat muss, jedenfalls temporär, den Geldüberhang bei den Kapitalbesitzern durch konfiskatorische Steuern abschöpfen (und mit diesen seine Schulden tilgen).
Ebenso wäre auch der Produktionsmittelbesitz zu besteuern und Landbesitz, aus dem Zinsen geschöpft werden. Der Staat muss also das GESAMTE 'Geldentzugspotential' teilweise in einer befristeten Aktion wegsteuern.
Dass eine solche Besteuerung politisch selbst dann kaum durchzusetzen wäre, wenn wir es mit einer Krise von der Heftigkeit der Great Depression zu tun hätten, ist mir durchaus klar.
Indes werden vermeintlich realistische "Lösungen" zur Genüge angeboten. Doch habe ich bei denen oft das Gefühl einer Begegnung mit geistigen Ganggesteinen oder Subvulkaniten: Kurz vor dem Durchbruch der Erkenntnis an die Oberfläche ist das Brodeln des Denkens erstarrt: Man hat einen (scheinbar) "quick fix", eine vernünftig und realisierbar erscheinende Patentlösung gegen die Weltfinanzkrise und/oder die Welt-Wirtschaftskrise und mauert sich selbstzufrieden darin ein. Durchdenkt man dann aber die Situation und/oder die vorgeschlagenen Lösungen tiefer, versucht man sie gedanklich nachzuspielen, stößt man schnell auf eklatante gedankliche Mängel. Deshalb erscheint es mir wichtiger, zunächst einmal ein (hoffentlich) in sich konsistentes Modell zu erarbeiten, und daran die verschiedenen möglichen Entwicklungspfade des Systems und theoretische Eingriffsmöglichkeiten durchzuspielen, als ein weiteres "me-too-Produkt" in den mit Vorschlägen aus alter Ideenproduktion bereits überschwemmten Meinungsmarkt zu drücken.


Mit meinen Überlegungen verfolge ich natürlich dasselbe Ziel, das auch Konjunkturprogramme und geldschwemmende Notenbankstrategien verfolgen, nämlich das Geld (wieder) "an die Arbeit" zu bringen. Ob jemand dafür schon früher eine konfiskatorische Besteuerung vorgeschlagen hat, weiß ich nicht. Das Ziel, den Geldkreislauf in Schwung zu halten, verfolgt zwar auch die Freiwirtschaftslehre (Freigeld, Schwundgeld) von Silvio Gesell.
Von dieser Bewegung trennen mich aber eine Reihe von Unterschieden; die muss es auch geben, weil mich die Freiwirtschaftslehre nicht überzeugt.
Berührungspunkte mit meinem Konzept bestehen z. B. insoweit, als Gesell "Freiland" fordert, also die Enteignung von Grund und Boden (alternativ wird von den Freigeldlern eine Bodenwertsteuer angedacht, die die Bodenrente komplett wegsteuert, was natürlich ebenfalls wie eine Enteignung wirkt). Freilich ist mein Ansatz weniger drastisch, indem ich ich den Boden weder enteignen noch die Bodenrente AUF DAUER wegsteuern will.
Eleganter erscheint bei Gesell die Geldbesteuerung. Die ließe sich (im Prinzip; auf der praktischen Ebene dürfte es schon einige Schwierigkeiten geben) mit einem "Federstrich" einführen, indem dem man eine kontinuierliche Geldentwertung verordnen würde. Anschließend würde das System als Selbstläufer funktionieren (glauben die Freiwirtschaftler jedenfalls). Vom Grundsatz her fände ich das nicht schlecht; allerdings haben wir ein solches Instrument bereits, nämlich in Gestalt der (freilich schwankenden) Inflationsrate. Der 'Anwachsmechanismus' zu Gunsten der Kapitalbesitzer liegt nämlich nicht im Zins (i. w. S. - s. o.!) als solchem begründet, sondern im positiven Realzins. Ist der Realzins dagegen negativ, wird Geldkapital automatisch sozusagen 'disakkumuliert': es löst sich langsam in Luft auf, nicht anders als beim Schwundgeld.
Es gibt zwar Gründe, die gegen einen negativen Realzins sprechen; allzu billiges Geld scheint einer optimalen Allokation der Kapitalressourcen abträglich zu sein. Bei einer solchen Kritik wäre jedoch die Differenz zwischen Habenzinsen und Sollzinsen zu berücksichtigen. Ersterer könnte unter der Inflationsrate liegen (also disakkumulierend wirken), letzterer darüber (Kreditnehmer würden damit keine Netto-Inflationsgewinne einfahren). (Vgl. dazu auch meinen bereits oben zitierten Zins-Blott.)

Die Zinsmechanismen wirken in entsprechend in einem Schwundgeldsystem (Freigeldsystem). Damit ist aber auch Freigeld als solches keineswegs ein Garant für einen negativen (Soll- und/oder Haben-)Realzins: Es ist durchaus vorstellbar, dass die Sollzinsen oder auch die Habenzinsen höher als die 'Schwendungsrate' liegen. Tatsächlich ist zu erwarten, dass die Anleger alles daran setzen werden, positive Realzinsen zu erhalten. (Ob sie damit Erfolg haben, ist eine andere Frage; aktuell - Stand dieser Ergänzung 04/2013 - liegen jedenfalls die Sparzinsen ja unterhalb der Inflationsrate.) Die Sollzinsen müssen in einem Freigeldsystem ohnehin oberhalb der 'Schwendungsrate' liegen; sonst hätten die Schuldner (Kreditnehmer) ein "leistungsloses Einkommen" auf Kosten der Gläubiger (Einleger).

Vor allem aber hat die Schwundgeldidee insoweit eine offene Flanke, als es um die Erträge aus Betrieben geht. Auch die sind bzw. enthalten "leistungsloses Einkommen". Um das an Extrembeispielen zu verdeutlichen: die Milliardeneinnahmen von Bill Gates oder Warren Buffet kann man sicherlich nicht mehr als "Unternehmerlohn" bezeichnen. Indes geht es mir hier in keiner Weise um irgendeine ethische Dimension; entscheidend für mich ist das 'Geldentzugspotential' aus der Realwirtschaft. Eine solche 'Lizenz zur Blutentnahme' ist eben nicht nur das Eigentum an Grund und Boden, sondern eben auch z. B. der Aktienbesitz.

Gesell setzt die Akzente anders; für ihn geht es darum, jedwedem Geld, egal wem es momentan gehört und ob es große oder kleine Summen sind - Ansparsummen für ein Auto, ein Haus oder Rücklagen für die Altersversorgung - Beine zu machen. Er will die Geldbesitzer sozusagen mit einer 'Alles-muss-raus'-Mentalität zu infizieren. Im Grunde will die Freigeldbewegung uns alle so ausgabenfreudig machen, wie es die amerikanischen Konsumenten schon im gegenwärtigen Geldsystem sind. (Auch insoweit stellt sich empirisch die Frage: warum brauchen wir eigentlich Freigeld? Offensichtlich kann man den Leuten das Geld doch auch im bestehenden System abnehmen!)

Was dabei unter die Räder gerät ist die Überlegung, ob die Wirtschaftssubjekte denn überhaupt (Eigen-)Geld haben und woher es kommen soll bzw. wo es abgeblieben sein könnte, wenn (allzu) viele kein "Eigengeld" besitzen bzw. erlangen können.

Hätten wir es mit einer Gesellschaftsform selbständiger Handwerker zu tun (mein o. a. Modell II), wäre das Freigeld vielleicht eine patente Lösung gegen Hortungstendenzen.
Aber Kapitalisten horten anders als die Wirtschaftssubjekte in der Vorstellung (und vielleicht teilweise auch noch in der Realität zur Zeit von) von Silvio Gesell. Die legen ihr Geld gerade nicht unter die Matratze. Vielmehr setzen die im Gegenteil alles daran, es zu vermehren.
[Nebenbei bemerkt: könnte man die aktuelle Krise heuristisch nutzbringend - nicht "wahr" im unmittelbaren Sinne - nicht vielleicht sogar als einen Erpressungsschachzug 'des Kapitals' deuten, das jetzt den Staat in die Schuldnerrolle zwingt, nachdem es die anderen Schuldner soweit ausgesogen hat, dass dort nichts mehr zu holen ist??]
Wenn das System (derzeit, und m. E. auch auf längere Zeit) nicht mehr, bzw. aktuell nur um den Preis einer ständig steigenden Kollektivverschuldung (Staatsverschuldung) funktioniert könnte das daran liegen, dass die Kapitalbesitzer ihr Geld weniger als früher als Tauschmittel benutzen (d. h. Konsumgüter oder Investitionsgüter damit kaufen) und es dadurch nicht mehr in die Realwirtschaft, der sie es entnommen haben, "zurückbringen". Ein "Zurückbringen" auf dem Kreditwege für Investitionszwecke funktioniert offenbar deshalb nicht mehr in ausreichendem Maße, weil das Wachstumspotential der Realwirtschaft kleiner und das Nominalkapital zu groß geworden ist; dadurch steckt anscheinend zu viel Geld in einer 'babylonischen Gefangenschaft' der Finanzmärkte.

Die Rolle des Kredits scheint Silvio Gesell weitgehend ausgeblendet zu haben.
Zwar kenne ich seine Schriften und insbesondere sein Hauptwerk "Die Natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld" (Text z. B. hier online) nicht, doch habe ich in verschiedenen Beschreibungen der Freigeldlehre nichts Substantielles zum Thema Kredit gefunden. Wenn man indes den Kapitalbesitzern die Möglichkeit belässt, Zinsen aus ihren Betrieben zu ziehen, sowie Zinsen aus ihrem Geld, lässt man einen Abfluss offen, über den sie das Geld (im Sinne von 'Eigengeld' der Wirtschaftssubjekte) aus der Realwirtschaft herausziehen können. Wir landen also wiederum da, wo wir aktuell dummerweise gerade sind.

Vor allem erscheint mir im freiwirtschaftlichen Gedankengut die Rolle des Sparens nicht hinreichend durchdacht zu sein. Sparen ist volkswirtschaftlich an sich ja eine gute Sache: auf diese Weise lassen sich realwirtschaftliche Investitionen finanzieren (und m. E. nur auf diese Weise, auch wenn manche behaupten, dass Investitionen im Kreditwege sozusagen "out of the thin air" generiert werden).
(Erg. 8.4.13: Die hier berührte Geldschöpfungsfrage ist ziemlich komplex; realwirtschaftlich kann man jedenfalls ganz abstrakt feststellen, dass es eine bestimmte Produktionskapazität gibt, und dass die - sofern sie erreicht ist - zwischen Konsumenten und Sparern aufgeteilt werden muss. Was konsumiert wird, kann dann nicht mehr investiert werden; ein evtl. Versuch, durch Geldschöpfung die Investitionsquote zu steigern, müsste jeden bei Vollauslastung der Kapazitäten inflationierend wirken. Vermutlich tritt die Inflationswirkung aber schon früher ein; das dürfte von verschiedenen "Engpässen", wie z. B. dem Ausbildungsstand des Humankapitals, abhängen.)
Auch wenn wir also (m. E.) Ersparnisse benötigen, um Investitionen zu tätigen, wirkt das Sparen nicht in jedem Falle volkswirtschaftlich positiv: Auch hier gilt das Paracelsus-Wort "Dosis facit venenum" - die (Über-)Dosis macht das Gift.

Schwundgeld 'bestraft' im Übrigen alle seine Besitzer in gleicher Weise. Die Idee einer (partiellen) konfiskatorischen Besteuerung, verbunden mit satten Freibeträgen (z. B. 1 Mio. €) trägt dagegen den unterschiedlichen Sparmotiven (bzw., auf die "Reichen" bezogen, "Spar"motiven) Rechnung. Geld, das aller Voraussicht nach in die Realwirtschaft zurückfließen wird - Ansparkapital für Auto, Haus, eine kleine Altersrente - wäre von der Besteuerung ausgenommen. Die unterschiedliche Behandlung rechtfertigt sich aus dem genannten wirtschaftlichen Sachgrund, nicht etwa aus opportunistischem Politkalkül heraus (um eine breite Zustimmung im demokratischen Prozess zu erreichen), oder aus Mitleid mit dem kleinen Mann, oder aus einem Reflex der Verteidigung meiner persönlichen Interessen (als einer von den kleinen Männern).

Unter einer Überdosis an Sparkapital scheint die Welt derzeit zu leiden. Die Idee einer vorübergehenden konfiskatorischen Besteuerung berücksichtigt die Janusgesichtigkeit des Sparens: Dieses wird nicht gänzlich diskreditiert (wie in einem Schwundgeldsystem). Vielmehr soll Erspartes nur jeweils dann und insoweit abgeschöpft werden, als es zu einem 'Kippen' des geldbasierten Wirtschaftssystem führt oder zu führen droht.

Diese Konzeption ist in ihrer Umsetzung natürlich deutlich komplizierter, und in der Realisierung noch utopischer, als das Freigeldsystem. In gewisser Weise ist sie, zumindest auf der analytischen Ebene, auch radikaler.

Unabhängig von den Realisierungschancen möchte ich indes mein Modell als ein heuristisches Instrument begriffen wissen: können wir daran etwas über den gegenwärtigen Status unseres Ökonomiesystems erkennen, hilft es uns weiter bei der Überwindung der Krise?
Daran, und an meiner Prognose einer weiterhin wachsenden Staatsverschuldung, will ich mich bzw. muss ich mich wohl (unvorsichtig weit aus dem Fenster gelehnt) messen lassen.


Grundlage meiner Forderung nach einer vorübergehenden konfiskatorischen Besteuerung aller "Zins"quellen ist natürlich die Unterkonsumtionstheorie.
Der Eintrag in der deutschsprachigen Wikipedia ist sehr ausführlich und unbedingt lesenswert, greift aber insoweit zu kurz, als er dem englischen Wirtschaftswissenschaftler Hobson die Entdeckung zuweist:
"Die Unterkonsumtionstheorie ist eine volkswirtschaftliche These von John Atkinson Hobson, nach der das Entstehen von Wirtschaftskrisen (Unterkonsumtionskrise) aus einer unzureichenden Nachfrage nach Konsumgütern zu erklären ist und durch Stärkung der Massenkaufkraft durch Lohnerhöhungen bekämpft werden kann. Insbesondere ist es also gemäß dieser Theorie die zurückbleibende zahlungsfähige Nachfrage der Arbeiterklasse, die zu einer Krise führt." [Als Vorläufer erwähnt sie noch bzw. lediglich Johann Karl Rodbertus, einen Zeitgenossen von Karl Marx: "Bereits vor Hobson wurde eine ähnliche Theorie entwickelt von Johann Karl Rodbertus"; ausführlich hier über Rodbertus; einige seiner Bücher sind dort online.]
Man sollte deshalb möglichst auch den sozusagen komplementären Text in der englischsprachigen Wikipedia lesen, der sich mehr mit der -langen- Geschichte dieser Idee beschäftigt:
"In underconsumption theory, recessions and stagnation arise due to inadequate consumer demand relative to the amount produced. It is an old concept in economics, going back to the 1598 French mercantilist text Les Trésors et richesses pour mettre l'Estat en Splendeur (The Treasures and riches to put the State in Splendor) by Barthélemy de Laffemas, if not earlier."
Über Hobsons (H. wird hier als wirtschaftswissenschaftlicher Ketzer bezeichnet) Vorstellung von "Underconsumption" erfahren wir in dem englischsprachigen Hobson-Eintrag (meine Hervorhebung):
"Hobson wrote for several other journals before writing his next major work, The Industrial System (1909). In this tract he argued that maldistribution of income led, through oversaving and underconsumption, to unemployment and that the remedy lay in eradicating the "surplus" by the redistribution of income through taxation and the nationalization of monopolies."
Ausgerechnet das "Industrial System" ist leider weder im Projekt Gutenberg online, noch im im Marxist Internet Archive. Der volle Buchtitel ist übrigens informativer: "The Industrial System: An Inquiry into Earned and Unearned Income". Aber hier im "Internet Archive" hat man es verfügbar gemacht - Danke! (Bzw. "Stöhn" - über die Lektüre von 356 S. auf Englisch, die mir jetzt bevorsteht. (Dass es ein leicht angestaubtes Englisch ist, sollte mich nicht stören, habe ich doch in meiner Jugend Englisch u. a. mit Hilfe von Sherlock-Holmes-Krimis, aus der gleichen Zeit um 1900, aus der englischsprachigen - oder sogar englischen? - Bücherei der "Brücke" am Alten Markt in Bielefeld gelernt.)
[Nachtrag 24.01.10: Deutscher, bleib bei deiner Sprache: Manchmal findest du dort sogar gleich Gutes oder gar Besseres wie im anglophonen Schlucktrichter meiner Lektüreinteressen. Auf seiner Webseite www.systemfrage.de hat ein gewisser Paul Simek sehr umfangreiche Informationen über die Geschichte der Nachfragetheorie - die wurde natürlich wiederum vorwiegend in dem frühkapitalistisch fortschrittlicheren England entwickelt oder entfaltet - eingestellt. Auch wenn das eigentlich spannende Keynes-Kapitel noch fehlt, lässt schon ein flüchtiges Drüberstreifen eine sorgfältigere Beschäftigung verlockend erscheinen, doch fehlt mir dazu derzeit die Zeit.]


Das Ludwig-von-Mises-Institute hat von James Mill, dem Vater von John Stuart Mill, eine Kritik der Unterkonsumtionstheorie online gestellt. Sie ist schon etwas älter, nämlich vom Jahr 1808 datierend: schon damals war sie also im Schwange.
Der (vom Herausgeber gegebene) Titel lautet: "On the Overproduction and Underconsumption Fallacies" und es handelt sich um "an excerpt from the author's pamphlet Commerce Defended, edited by George Reisman, Ph.D., Pepperdine University Professor Emeritus of Economics" (meine Hervorhebung).
Über den Hintergrund des Buches erfahren wir:
"Commerce Defended was published in 1808, in reply to various articles by William Cobbett which had appeared in a publication of the day called the Political Register, and to a pamphlet by William Spence, entitled Britain Independent of Commerce."

Der Herausgeber beurteilt die Arbeit außerordentlich positiv (meine Hervorhebungen):
"Whether or not Mill arrived at his version of "Say's" Law independently of Say is unimportant. What is important is that his is by far the more consistent, the more forceful, and the clearer version. Moreover, the excerpt now presented, which consists of Chapters VI and VII of Commerce Defended,entitled respectively, "Consumption" and "Of the National Debt," is not confined exclusively to the overproduction fallacy, but is also and even more concerned with the companion fallacy of underconsumption. In the opinion of the Editor, it represents one of the most important contributions of the Classical School , and to this day, remains among the most advanced expositions of the theory of saving and capital formation to be found anywhere."
Reisman stilisiert Mill sogar zu einem "revolutionary critic of contemporary economics". Die Lektüre ist außerordentlich anregend; das heißt aber nicht, dass Mills Logik sowie seine Interpretation von Spences Vorstellungen mich durchgängig überzeugen würden. In vielen Belangen hat auch Spence (eine Art Frühkeynesianer) vorzügliche Argumente.

Die Kritik vom Mill an William Spence (der in seinem Pamphlet "Britain Independent of Commerce" eine Art Unterkonsumtionstheorie vertreten hatte) macht mir klar, dass ich mich mit der Einordnung meines Wirtschaftsmodell als einer Variante dieser Theorie potentiell missverständlich ausgedrückt habe. Bei mir geht es (anders als bei Spence) nicht darum ob das Geld konsumiert oder investiert wird [es ist übrigens interessant zu verfolgen, dass diese Unterscheidung damals noch keineswegs Allgemeingut war und von Mills erst umständlich begründet werden musste!]. Mein Artos-Phagen-Modell dient allein zur Prüfung der Frage, ob es fundamentale Strukturen in unserer Wirtschaftsordnung gibt, die einen dauerhaften Geldentzug (monetären Vampirismus) aus der Wirtschaft bewirken können. Soweit das Kapital innerhalb der Realwirtschaft bleibt ist es in diesem Zusammenhang unerheblich, ob es für Konsumzwecke oder für Investitionen ausgegeben wird. Mich interessiert hier, ob das Kapital als 'Eigengeld' in der Realwirtschaft kreist oder (teilweise) nur als 'Leihgeld' wieder dorthin 'heimkehren' kann bzw. vermutlich wird. [Auf der empirischen Ebene gehe ich für die Gegenwart aber natürlich ebenfalls von einer Unterkonsumtionskrise im engeren Sinne aus; nur so lässt sich erklären, dass die Wirtschaft auf Kosten einer ständig steigenden - amerikanischen - Verbraucherverschuldung leben musste.]

Im Fortgang meiner Lektüre erweist sich das Gespräch mit Mr. Mill über die Jahrhunderte hinweg als außerordentlich anregend, auch und gerade da, wo er mir widerspricht (meine Hervorhebung):
"Thus it appears that the demand of a nation is always equal to the produce of a nation. This indeed must be so; for what is the demand of a nation? The demand of a nation is exactly its power of purchasing. But what is its power of purchasing? The extent undoubtedly of its annual produce. The extent of its demand therefore and the extent of its supply are always exactly commensurate. Every particle of the annual produce of a country falls as revenue to somebody. But every individual in the nation uniformly makes purchases, or does what is equivalent to making purchases, with every farthing's worth which accrues to him."
Was für James Mill selbstverständlich ist, dass jeder Mensch den letzten Groschen ausgibt, bzw. in einer Weise verwendet, die in ihrer wirtschaftlichen Wirkung einem Kauf entspricht, ist es in der Realität keineswegs. Nach meiner Auffassung nicht einmal zur damaligen Zeit (vgl. meinen Blott "Keynes in Kempten?"); aber ganz bestimmt nicht heute.
In meinem o. a. Artos-Phagen-Modell habe ich nachgewiesen, dass jedenfalls in einer Geldwirtschaft eine Situation von (durch Geldmangel) erzwungenem Unterkonsum (und Unterproduktion) sehr wohl möglich ist. Im Hintergrund stand dabei die Vorstellung, dass das (Eigen-)Geld in der Realwirtschaft zu knapp ist, weil die Kapitalsammler (das müssen nicht nur die Reichen sein, man kann hier durchaus auch an die "Kapitalsammelstellen" - Versicherungen usw. -, aber auch an die 'Spargroschen der Witwen und Waisen' - oder der chinesischen Wanderarbeiter - denken, welche sich sicherlich zu hübschen Sümmchen zusammenläppern) es in die Finanzmärkte entführen.
Mein aktueller 'Dialog' mit Herrn Mills hat mich aber zu der Einsicht inspiriert, dass es jedenfalls theoretisch sogar bei einer vollständigen Geldverwendung in der Realwirtschaft zu Verwerfungen in der Art der aktuellen Finanzkrise kommen kann: außer der 'Veruntreuung' von Geld zu Gunsten der Finanzwirtschaft ist nämlich auch eine Entführung des Geldes aus dem 'allgemeinen' Markt der Realwirtschaft in das Serail eines Separatmarktes vorstellbar bzw. im Modell darstellbar.
Zu solchem Behufe verfielfachen wir zunächst unsere Mini-Ökonomien und verbinden sie mit einander. Dann haben wir, zum Beispiel, 3 Kapitalbesitzer ('Zinszieher', 'Extraktionisten').
Damit unsere Kapitalisten nicht leben müssen wie Hund, dotieren wir ihre Pfründe mit einer angemessenen Morgengabe:
- A schenken wir 2 Gemälde von Pablo Picasso;
- für B juckeln 2 Jachten durch die Karibik und
- C. bewohnt im Wechsel der Jahreszeiten eine Villa in Grunewald und eine in Positano. Wenn nun unsere drei Demonstrationsobjekte untereinander mit ihren Luxusgütern Handel treiben und die Gemälde, Villen usw. immer wieder, und mit ständig steigenden Preisen (schließlich ziehen sie ja ständig mehr Geld aus ihren Zinspfründen), untereinander verhökern, ist dieses Geld in einem abgeschotteten Markt gefangen: Ein Serail-Markt-Modell. Für die Bezahlung von Arbeitsleistung steht das Geld dann dauerhaft nicht mehr bzw. nur noch als 'Leihgeld' zur Verfügung (sofern es in der Zeit bis zur nächsten Transaktion ausgeliehen wird; davon kann man ausgehen, da es ja nicht im Tresor, sondern auf der Bank liegen wird).
Auch dieses Modell bildet zweifellos aktuell wirksame Erscheinungen ab; offen bleiben muss, welche Größenordnung mein Serailmarkt im Verhältnis zu den sonstigen volkswirtschaftlichen Dimensionen hat.
[Erg. 1.2.2014: Mein "Serailmarkt" ist wohl das, was Christopher Mensching, im Anschluss an den deutsch-amerikanischen Ökonomen L. J. Johannsen, in seinem Aufsatz "" die "Bestandsgrößensphäre" nennt, dem er die "Stromgrößensphäre" des Konsums (neuer Produkte) und (echter) Investitionen gegenüberstellt.]


Meine Forderung nach vorübergehender konfiskatorischer Besteuerung der zinsziehenden Vermögen versteht sich als eine Antwort auf die Frage, wie wir große Wirtschaftskrisen in Zukunft verhindern können. Sie ist das Ergebnis vielfältiger Lektüre von unzähligen Webseiten sowie von Bemerkungen in anders fokussierten Texten im Internet, in denen die Verschuldung der (US-)Verbraucher dargestellt und/oder als Krisenursache (oder Mit-Ursache) herausgestellt wird.
Diese Darstellungen haben mich überzeugt; die vorgeschlagenen Lösungsmechanismen dagegen nicht.


Der australische Wirtschaftsprofessor Steve Keen gehört zu jenen, welche die hohe relative Verschuldung für die gegenwärtige Weltwirtschaftskrise verantwortlich machen. Diese Meinung (die auch auf zahlreichen anderen Webseiten vertreten wird) teile ich.
Nicht überzeugend sind für mich dagegen die Lösungsvorschläge von Keen (und gleichartige von anderen), wie er sie z. B. in dem FAZ-Gespräch "Wir sind in der größten Finanzblase aller Zeiten vom 08.01.2010 vorbringt. Hier einige Auszüge (meine Hervorhebungen):
"Das Grundproblem liegt darin, dass im Rahmen einer spekulativen Manie viel zu viele Schulden angehäuft worden sind. Anleger kauften Vermögenswerte in der Erwartung, sie später zu höheren Preisen verkaufen zu können und nahmen in diesem Rahmen immer mehr Fremdkapital auf. Dieser Mechanismus war zentral für die amerikanische Wirtschaft. Das heißt, das Geld wurde nicht verdient, indem man Güter produzierte, sondern durch Spekulation. Steigende Vermögenspreise wurden im Kern getrieben durch immer höhere Verhältnisse zwischen Schulden und Einkommen. Solche Prozesse laufen, bis sie brechen - und an genau diesem Punkt sind wir nun angelangt, denke ich. Der Private Sektor muss seine Verschuldung vermindern. Das lässt die gesamtwirtschaftliche Nachfrage schrumpfen. .....
Sobald die Stimulierungsmaßnahmen auslaufen, wird der Entschuldungsprozess zu einer schrumpfenden Wirtschaft führen. Vor allem in Staaten, die sich durch ein hohes Verhältnis von Schulden zu Bruttoinlandsprodukt auszeichnen - wie die Vereinigten Staaten. Selbst wenn die staatlichen Stimulierungsstrategien verlängert oder erneuert werden sollten, dürften sie kaum groß genug sein, um die depressive Wirkung ausgleichen zu können. Es zeichnet sich eine ähnliche Entwicklung wie Japan ab. .....
Im Kern muss man gegen die Schuldung vorgehen. In Ländern wie den Vereinigten Staaten, Großbritannien oder Australien dienten sie in erster Linie zur Finanzierung von Vermögenspreisspiralen. Die Verantwortung dafür liegt auf der Gläubiger- und weniger auf der Schuldnerseite. Im Jahr 1990 etwa lag das Verhältnis von Hypotheken zu Bruttoinlandsprodukt in Australien bei 17 Prozent. Heute beträgt es mehr als 80 Prozent. Banken machten eben gute Geschäfte damit, professionelle Spekulanten - ich sage ausdrücklich nicht Investoren - zu finanzieren. Als diese in den 90er-Jahren Rückschläge erlitten, gingen die Banken dazu über, Privatpersonen zu finanzieren und sie auf steigende Hauspreise wetten zu lassen. Dafür jedoch brauchen wir den Finanzsektor nicht. Er sollte alleine darauf ausgerichtet sein, industriellen Unternehmen und Neugründungen zu dienen, statt Ponzisysteme zu fördern. .....
Die beste Lösung wäre, die bestehenden Schulden in der einen oder anderen Weise zu beseitigen. Eine Möglichkeit bestünde darin, sie einfach abzuschreiben. Das würde zum Konkurs der meisten Banken führen, die dann verstaatlicht und später schließlich reprivatisiert werden könnten. Eine andere Möglichkeit wäre die Entschuldung über einen inflationären Prozess. Diese Varianten werden jedoch ignoriert. In Australien werden die Verbraucher von neuem ermuntert, sich noch stärker zu verschulden. Neue Schulden führten zu mehr Wachstum und das sei gut, so die Logik. Langfristig betrachtet ist das jedoch falsch Verbindlichkeiten schneller als die Realwirtschaft wachsen zu lassen - und das müssen wir akzeptieren. .....
Tatsächlich ist meine Kur kaum umzusetzen. Denn die amerikanische und britische Wirtschaft ist in den vergangenen Jahren stark vom Versicherungs-, Finanz- und Immobiliengeschäft abhängig geworden. Große Teile der Produktion dagegen wurden ausgelagert nach China. Wollte man diesen Prozess umkehren, würden rund 20 Prozent der amerikanischen Bevölkerung unmittelbar arbeitslos werden. .....
So jedoch wird es wohl Jahre brauchen, bis klar werden wird, dass die jetzt angewandten Rezepte nicht wirken werden. Erst dann aber lassen sich die Probleme und Ungleichgewichte angehen, die in den vergangenen 20 Jahren entstanden sind. .....
Die Stützungsmaßnahmen jedoch führen dazu, dass sie [die Banken] sich wieder wie früher verhalten - obwohl das direkt in die Krise führte. Rund 80 Prozent der Tarp-Gelder, die dazu gedacht waren, die Wirtschaft zu beleben, gingen direkt in Spekulationen an den Aktienmärkten. Alleine deswegen sind die Aktienkurse so stark gestiegen. Die Banken sind zurückgekehrt zum „business as usual“, obwohl das Scheinwachstum vor der Krise im Kern alleine auf das zunehmende Verhältnis zwischen Schulden und Sozialprodukt zurückging. Es lässt sich aber nicht grenzenlos ausdehnen. .....
In den vergangenen 40 Jahren, vor allem aber während der vergangenen 20 Jahre, hat das Finanzsystem Kredite aus nichts geschaffen und damit außer Spekulationen nichts Substantielles finanziert. Wir haben die produzierenden Kapazitäten nicht erhöht, dagegen haben die Verbindlichkeiten dramatisch zugenommen. Um das System zu rekalibrieren, müssen wir wegkommen von der Kreditschöpfung der Banken und zurückkehren zum so genannten Fiat-Money der Zentralbank. .....
Konventionelle ökonomische Theorien können nur sehr schlecht erklären, wie der Kapitalismus funktioniert. Folgt man ihren Thesen, so gerät man in tiefe Krisen. Versucht man die Krisen mit ihnen zu lösen, so findet man keinen Ausweg. .....
... nach und nach wird klar werden, dass die Krise noch nicht vorbei ist. Man wird Wachstumsschwächen und hoher Arbeitslosigkeit immer wieder mit neuen Stimulationsmaßnahmen begegnen, statt das Schuldenproblem anzugehen und die Banken zu sanieren. Das Wachstum wird ungenügend sein und in Amerika und Großbritannien wird die Arbeitslosigkeit zunehmen. Schließlich wird sich die Erkenntnis durchsetzen, dass die etablierten Ökonomen das wahre Problem sind. .....
Franklin D. Roosevelt erklärte in seiner Antrittsrede 1933, also noch vier Jahre nach Beginn der großen Depression: „Die Kreditgeber bestimmten die Religion und als einzige Methode zur Lösung der Schuldenkrise schlagen sie noch mehr Schulden vor“.
"

Keen bleibt m. E. auf halbem Wege stecken, wenn er die Schuldner über eine Insolvenz der Kreditgeber (Banken) sanieren will. Abgesehen davon, dass dabei ein ökonomisches Chaos erster Güte zu befürchten wäre, halte ich die (entfernt an die Gesellianer erinnernde) Beschränkung der Abschöpfung auf den Bankensektor (oder alternativ - via Inflation - den Geldsektor bzw. die Geldbesitzer) für verfehlt. Zahlen müssten aus meiner Sicht alle, die Geld aus der Realwirtschaft herausgezogen haben oder die durch die Höhe ihrer Vermögen das Potential dazu haben.
Um auf mein Bild des monetären Vampirismus zurück zu kommen: Wir können nur dasjenige Geld wieder in die anämische Realwirtschaft zurück führen, was schon vorhanden ist. Die Krise ist nach meinem Verständnis systembedingt, eine individuelle Schuld an ihrer Entstehung sehe ich letztlich nicht. Dem entsprechend muss aber dann auch die Lösung eine systemische sein, d. h. sie müsste jenseits herkömmlicher Schuldüberlegungen alle erfassen, die aufgrund ihrer Stellung im System ein Gefährdungspotential bilden. Ein solches Ergebnis ließe sich durch eine konfiskatorische Steuer erreichen: der Staat würde entschuldet und könnte mit dieser Sondersteuer die Konjunktur ankurbeln. Nicht entschuldet werden sollten allerdings die einzelnen Debitoren; das fände ich unklug (moral hazard!). Auch wirtschaftlich erscheint das nicht geboten; wesentlich ist ja nur, dass irgend jemand konsumiert (z. B. der Staat und anschließend diejenigen, die das Geld vom Staat - mit oder ohne Gegenleistung - erhalten haben), nicht dass diejenigen wieder fröhlich weiterkaufen können, welche schon bislang - mit fremdem Geld - auf dem Konsumtrip oder beim "Häusle"bauen waren.

Die Inflationslösung, die Steve Keen als alternativen Ausweg aus der Überschuldung der Massen erwägt, wird auch von anderen (insbesondere im Zusammenhang mit dem Abschmelzen der Staatsschulden) erwogen bzw. propagiert. Darüber, und auch über valide Gegenargumente (vgl. dort insbesondere den Textauszug von Wolfgang Münchau am Schluss) hatte ich bereits in meinem Blott "„Ceci n’est pas une inflation“ oder: Eine Inflation gibt es nicht!" vom 28.03.09 ff. umfangreich informiert; ebenso im Blott "Alles Madoff oder was? Amerikanische Wirtschaftswissenschaftler (auch die US-Notenbank?) wollen (erneut) die Welt bestehlen. Jetzt durch Inflation" vom 28.05.09 ff.
Der Charme einer solchen Lösung für Ökonomen liegt wohl darin, dass sie scheinbar marktkonform ist und gewissermaßen "von selbst" wirkt (obwohl in Wirklichkeit natürlich durch die Geldpolitik der Notenbank getrieben). Vor allem erspart der gewissermaßen automatisierte Einzug einer Inflationssteuer (nichts anderes ist nämlich Inflation!) dem Staat die Erhebung von "richtigen" Steuern über das jeweils eingespielte Niveau hinaus. Derartige Steuererhöhungen (alternativ wäre auch an Ausgabenkürzungen zu denken, aber die sind anscheinend noch schwerer durchsetzbar) wären aber erforderlich, um die Staatschulden abzutragen; dass sie in einem selbsttragenden Aufschwung aus sprudelnden Steuerquellen bezahlt werden können, glauben nämlich die Wenigsten.

Aktuell hält z. B. Thomas Mayer, der neue Chefvolkswirt der Deutschen Bank, eine Weginflationierung der Staatsschulden für wahrscheinlich. In dem Welt-am-Sonntag-Interview "Chaos durch Griechenland. Ökonom der Deutschen Bank warnt vor Euro-Crash" vom 21.01.10 sagt er dazu u. a. (meine Hervorhebungen):
"Mittel- und langfristig scheint es mir sehr schwer, Inflation zu vermeiden. Vor der aktuellen Krise ist in einem kreditfinanzierten Boom viel Geld ausgegeben und fehlinvestiert worden, ohne dass es einen entsprechenden realen Gegenwert gäbe. Die private Schuld wurde zu einem großen Teil in Staatsschuld verwandelt. Theoretisch gibt es nun mehrere Möglichkeiten, um die Bücher wieder auszugleichen.
Der Königsweg: Die reale Wirtschaft und die Einkommen wachsen so schnell, dass die Schuldner sozusagen aus ihrer Schuld herauswachsen und die Gläubiger problemlos bedienen können. Ich glaube nicht daran. Alle Studien belegen, dass nach großen Finanzkrisen Wachstum erst einmal niedrig ist. Schweden in den 90er-Jahren hat einmal das Gegenteil geschafft, aber dies war ein kleines Land, das starkes Wachstum im Rest der Welt für sich nutzen konnte. .....
WELT ONLINE: Und die anderen Alternativen zur Inflation?
Mayer: Sind alle sehr schmerzhaft. Die eine ist Schuldendeflation wie in den 30er-Jahren: Der Staat tut nichts, Schulden werden nicht bedient. Dann hat ein Gläubiger, der eben noch solide aussah, ein Loch in seiner Bilanz und zieht den nächsten Gläubiger mit runter. Dann sind die Schulden schließlich verschwunden, aber eine gesunde Wirtschaft auch. Die andere Lösung ist massenhaftes Gelddrucken, Hyperinflation und Währungsreform. Dafür haben wir in Deutschland viele Beispiele. Im Vergleich dazu wird heute die am wenigsten schlechte Lösung sein, bei einem gewissen Realwachstum die Inflation ansteigen zu lassen.
WELT ONLINE: Sie erwarten fünf Prozent im Jahr?
Mayer: Das ist nur eine Hausnummer – es kann auch eine andere Zahl im einstelligen Bereich sein.
"


Skeptischer ist der Finanzexperte Prof. Kai Konrad in dem Merkur-Online-Interview [Münchner Merkur]
"Staatsverschuldung: „Es gibt keine Patentlösungen“ " vom 14.05.2009:
Frage: "Eine andere Möglichkeit [die Staatsschulden abzubauen, alternativ zu Steuererhöhungen bzw. Ausgabenkürzungen] wäre eine gezielte Inflation?
Konrad: Das ist ja nicht ins Ermessen der Bundesregierung gestellt, sondern, wenn überhaupt, ins Ermessen der Europäischen Zentralbank. Aber das Inflationieren ist auch keine Sache, über die man eine hundertprozentige Kontrolle hat. Zudem kann eine Inflation erst dann kommen, wenn die Wirtschaft zu einem gewissen Maß auch wieder anspringt.
"


Mit der EZB ist das Weginflationieren von Schulden nicht zu machen (soweit es in ihrer Hand liegt; die Frage ist natürlich, inwieweit sie sich gegen eine anglo-amerikanische Inflationierung stemmen kann).
Jürgen Stark, Chefvolkswirt und Mitglied im Direktorium der Europäischen Zentralbank (EZB / ECB), hat in einem Interview mit der Welt am Sonntag vom 24.01.2010 u. d. T. "Griechenland wird nachbessern müssen" ein Weginflationieren von Schulden unmissverständlich abgelehnt:
"Welt am Sonntag: Manche sehen eine höhere Inflation als einzigen Ausweg aus der Schuldenkrise. Wird sich die EZB von ihrem Stabilitätsziel, einer Inflationsrate von etwas weniger als zwei Prozent, verabschieden?
Stark: Dieser Weg scheidet für die EZB aus. Dies wäre eine schleichende Enteignung der Sparer und würde das Vertrauen in uns belasten. Unser Stabilitätsziel hat sich bewährt und steht nicht infrage.
Welt am Sonntag: In den USA oder England kaufen die Zentralbanken Anleihen und finanzieren so die Schulden des Staates.
Stark: Wir sind hier nicht auf einer Insel und nicht auf einem anderen Kontinent, sondern in Kontinentaleuropa. Und da gibt es für die Zentralbank ein klares und vorrangiges Mandat für Preisstabilität.
Welt am Sonntag: In den USA und England sind die Wachstumsperspektiven aber besser.
Stark: Je nachdem, welches Wachstum man will. Es geht um die Nachhaltigkeit des wirtschaftlichen Wachstums. Was nutzt es, wenn ein künstlich starkes Wachstum Ungleichgewichte und Übertreibungen erzeugt, die zu heftigen Krisen führen?
"


Das Problem mit der Inflation ist, dass sie einseitig die Geldbesitzer belastet, die Eigentümer anderer Vermögenswerte dagegen ungeschoren davonkommen lässt. Schmerzlich haben das z. B. meine Eltern nach dem Krieg erlebt. Die hatten ein für Arbeitnehmer ganz erkleckliches Sümmchen gespart, nämlich (glaube ich) 4.000,- Reichsmark. Davon haben sie nicht viel wiedergesehen: das Wikipedia-Eintrag zum Stichwort "Währungsreform 1948 (Westdeutschland)" informiert uns:
"Bargeld und letztlich auch Sparguthaben wurden zum Kurs 100 RM zu 6,50 DM umgetauscht".
Der Abschnitt "Ungleiche Opferverteilung" unterschlägt den größten Teil der Begünstigten:
"Der allgemeine Tauschkurs von 100 RM:10 DM galt gewissermaßen nur für Schuldforderungen. Bargeldreserven und Bankguthaben wurden letztendlich im Verhältnis 100 RM:6,50 DM umgetauscht. Die öffentliche Anleihen an Privatpersonen wurden für wertlos erklärt. Preise und Löhne wurden im Verhältnis 100:100 umgesetzt. Wer Waren bis zur Umstellung ungesetzlicherweise gehortet hatte, der war Gewinner. Die Sparer und Arbeitslosen waren die Verlierer."
Gewonnen haben nämlich außerdem alle Eigentümer von Sachwerten, insbesondere Grundbesitzer und Aktionäre.

Das Weginflationieren von Schulden ist ein scheinbar bequemer Weg; in Wirklichkeit wäre er aber, vom Gerechtigkeitsproblem ganz abgesehen, möglicher Weise zumindest heute unwirksam. Die amerikanischen Hypothekenschuldner z. B. haben größtenteils Darlehen mit einem variablen Zinssatz aufgenommen; da kann die Inflation den Gläubigern nichts anhaben, weil sie den Zinssatz entsprechend erhöhen können. Und besonders bei einer schleichenden Inflation würden sich auch die Zinsen für Staatsanleihen entsprechend erhöhen. Da auch die Staaten sich großenteils über kurzlaufende Anleihen finanziert haben, würde eine steigende Zinslast ihre Inflationsgewinne schnell wieder auffressen. Und wenn die Notenbanken - insbesondere die amerikanische Federal Reserve System ist hier wohl als Hauptverdächtiger ins Visier zu nehmen - dieses Spiel fortzusetzen versuchen würden, wäre die Welt schnell in einer unkontrollierbaren Inflationsspirale.


Nehmen wir als weiteres Beispiel für Lösungsvorschläge zur Wirtschaftskrise den deutschen Unterkonsumtionisten Heiner Flassbeck. Dieser Volkswirt (dessen gesellschaftliche Position mir - von seiner Forderung nach einem Bailout für Griechenland einmal abgesehen - unbedingt sympathisch ist und von dessen auf seiner Homepage veröffentlichten Publikationen man so viele wie möglich lesen sollte) hat eine andere Vorstellung davon, wie man den Konsum in Deutschland ankurbeln könnte, nämlich durch höhere Löhne. (Mit dieser Forderung steht er nicht allein, aber ich greife ihn hier mal als konkretes Beispiel heraus.)
Im Detail lässt sich dagegen Vieles einwenden; forcierte Lohnerhöhungen würden m. E. zu Verwerfungen führen, die sich nicht aufgrund der gesteigerten Arbeitnehmereinkommen von selbst heilen (was ist z. B., wenn die Arbeitnehmer, statt Zweitautos von VW zu kaufen, das Geld im Urlaub verjuxen? Wenn dafür die Griechen usw. unsere Autos kaufen - ok. Aber was wäre, wenn die billigere koreanische, indische oder rumänische Pkws kaufen, weil unsere Fabrikate zu teuer geworden sind?).
Letztendlich dürften sich solche Ungleichgewichte in der einen oder anderen Weise aus unserem o. a. Modell herleiten lassen. Denn ohne dass man die konkreten volkswirtschaftlichen Wechselwirkungen von massiven Lohnerhöhungen in Deutschland im Detail durchdeklinieren müsste lässt sich bereits an der Modellsituation ablesen, dass ein solches Heilmittel unwirksam (wenn nicht gar schädlich) sein muss. Mit dieser Methode könnten nämlich nur Unternehmergewinne abgeschöpft werden; die anderen Zinszieher, also z. B. diejenigen, welche Kredite an Unternehmen vergeben haben (speziell in Deutschland arbeiten die Firmen ja mit einem sehr hohen Fremdkapitalanteil) bleiben ungeschoren. Da somit große Teile der (Geld-)'Abflussrohre' offen bleiben, würden Lohnerhöhungen dem Grunde nach nichts daran ändern, dass sich der Geldbesitz immer weiter konzentriert und nach wie vor immer weniger in Form von Ausgaben (Konsum, Investitionen) in die Wirtschaft und dort als 'Eigengeld' in die Hände der Arbeitnehmer, aber auch der Unternehmer, gelangt. Dem Problem der Überschuldung, bzw. des für den Wirtschaftskreislauf fehlenden 'Eigengeldes' ist auf diese Weise nicht beizukommen, eine Umverteilung kann nicht auf die Unternehmergewinne beschränkt werden, ohne an anderen Stellen Spannungen im Wirtschaftsgefüge auszulösen.


Weitere Möglichkeiten, das Geld von den 'Sammlern' wieder in die Wirtschaft zurück zu schaufen, sind Spielcasinos - die richtigen wie die häufig als Spielcasinos beschimpften Finanzmärkte. Voraussetzung ist natürlich, dass dort nicht arme Leute zocken, wie einst Fjodor Michailowitsch Dostojewski, sondern die wirklich Reichen, die ihr Geld nicht in die Realwirtschaft investiert haben.
Sogar den vielgeschmähten Banker-Boni kann man dann einen positiven Aspekt abgewinnen: soweit sich die Boni-Begünstigten damit Dinge oder Dienstleistungen kaufen, fließt das Geld ja in die Realwirtschaft zurück.
Und Bernard L. Madoff müsste man einen Verdienstorden verleihen anstatt ihn einzubuchten: jedenfalls dann, wenn er das bei ihm eingezahlte Geld nicht einfach an andere Reiche umverteilt, sondern sich (oder anderen) dafür etwas Schönes gekauft hat, war er ein wirklicher volkswirtschaftlicher Wohltäter. [Dumm gelaufen, Berni, du hättest halt mich als deinen Strafverteidiger engagieren sollen! ;-)]


Nachtrag 30.01.2010
In meiner Vorstellung eines "monetären Vampirismus" fühle ich mich bestätigt durch eine Äußerung des ehemaligen Investmentbankers (und heutigen Leiters eines Beteiligungsfonds) Leonhard Fischer in dem Zeit-Interview »Der Markt versagt ständig« vom 29.01.10 (Rüdiger Jungbluth und Mark Schieritz). Die hier interessierende Passage lautet (meine Hervorhebungen):
"ZEIT: Die Investmentbanker nehmen sich seit Jahren immer größere Stücke vom wirtschaftlichen Kuchen. Die Gewinne sind exorbitant.
Fischer: Das stimmt wohl, und es spricht vieles dafür, dass das Investmentbanking zu stark und zu schnell gewachsen ist. Die zentrale Frage aber ist, warum das Wachstum so explodierte.
ZEIT: Das würden wir gern von Ihnen wissen.
Fischer: Das Weltwirtschaftssystem weist einen unverändert vorhandenen Webfehler auf. Es gibt zu viel vagabundierendes Kapital, für das sich keine Investitionsmöglichkeiten finden und das immer neue Spekulationswellen erzeugt. Ein Grund liegt darin, dass die wohlhabenden Gesellschaften des Westens, die zum Teil absehbare demografische Probleme haben, bei der Altersvorsorge auf kapitalgedeckte Systeme setzen. Damit das funktioniert, brauchen sie auf der anderen Seite Länder, die noch nicht so hoch entwickelt sind und noch stärker wachsen können und in denen dieses Kapital investiert werden kann.
ZEIT: Solche Länder gibt es mehr als genug.
Fischer: Ja. Nur weisen Volkswirtschaften wie China gigantische Überschüsse in der Leistungsbilanz auf, während viele wichtige westliche Länder wie die USA ein Defizit haben, weil sie mehr konsumieren, als sie erarbeiten. In Amerika wird in den nächsten zehn Jahren die Babyboomer-Generation in Rente gehen. Diese Menschen müssen dann ihre Altersvorsorge zu Geld machen. Das wird schwerer werden als gedacht, denn die amerikanische Gesellschaft als Ganze hat in den vergangenen Jahren nicht etwa Ansprüche auf Rentenzahlungen aus dem Rest der Welt erworben, sondern der Rest der Welt, allen voran die asiatischen Länder und die des Mittleren Ostens, hat Ansprüche auf die zukünftige Arbeit amerikanischer Kinder erworben. Das ist paradox. Ein solches systemisches Ungleichgewicht führt uns von einer Krise zur nächsten. Und alle paar Jahre geht dann wieder eine dieser Blasen hoch. Das ist keine Verschwörung von Investmentbankern.
"

Oberflächliche Leser könnten zu dem Schluss kommen, dass Fischer das Kapitaldeckungsverfahren zur Rentensicherung für das Problem hält. Tatsächlich hält er es für ein Problem, aber eben nur EINES von mehreren. Man darf wohl annehmen, dass (wie bei mir) auch aus seiner Sicht die Reichen, vielleicht aber auch die sparwütigen Chinesen, als Problemverursacher hinzukommen.
[Ergänzung 17.04.2010: Das Rätsel des theoriewidrigen Kapitalflusses "bergauf" ("uphill"), von den Entwicklungsländern bzw. Schwellenländern, treibt auch den internationalen Währungsfonds um. Unter der Überschrift "The Paradox of Capital" fragen Eswar Prasad, Raghuram Rajan und Arvind Subramanian in der IWF-Vierteljahres-Zeitschrift "FD Finance & Development", Ausgabe März 2007 (Band 44 Nr. 1):
"Is foreign capital associated with economic growth and, if not, why does it flow 'uphill'?"
Dort wird auch auf ein - damals noch unpubliziertes - wirtschaftswissenschaftliches Arbeitspapier hingewiesen, das diesem Phänomen in größerer Ausführlichkeit nachgeht:
"CAPITAL FLOWS TO DEVELOPING COUNTRIES: THE ALLOCATION PUZZLE" von Pierre-Olivier Gourinchas und Olivier Jeanne (Working Paper 13602 der renommierten Reihe "NBER WORKING PAPER SERIES" des US-amerikanischen "NATIONAL BUREAU OF ECONOMIC RESEARCH")]

Einmal auf der Spur der merkwürdigen Kapitalflüsse, gelange ich nun zu dem (mir eigentlich schon bekannten, aber irgendwie bislang noch merkwürdig gestaltlos gebliebenen) Begriff einer "Sparschwemme". Auf Englisch wird von "global saving glut" (auch: global savings glut) gesprochen; das beinhaltet natürlich bereits eine einschränkende Interpretation insoweit, als der Sparkapitalüberhang anderen Ländern, nicht den Wohlhabenden im eigenen Land, zugeordnet wird. (Laut Wikipedia soll der Begriff in 2005 von Ben Bernanke geprägt worden sein; in diesem Lexikoneintrag heißt es, der Ausdruck sei "um 1995 aufgekommen").
Es ist natürlich eine Frage, die nur durch Analyse der Daten beantwortet werden kann, wer an der Sparschwemme Schuld ist: Die Kapitalbesitzer im eigenen Land oder bestimmte fremde Länder (China, Ölländer). Mein Modell schließt die Möglichkeit eines nur ausländischen Kapitalüberhangs nicht aus; dennoch würde ich die Hypothese wagen, dass auch die US-Kapitaleigentümer ihre Geldeinnahmen NICHT vollumfänglich verkonsumieren bzw. reinvestieren, sondern dass ein Teil davon in die Finanzmärkte abfließt. Und dass für diejenigen Wirtschaftssubjekte, welche ihr Geld nur aus einem laufenden Funktionieren des realwirtschaftlichen "Tausch"systems beziehen, durch dieses 'Ausbluten' des Geldreservoirs der Realwirtschaft gezwungen sind, Kredite aufzunehmen, und dass diese Gelder u. a. aus Asien, Deutschland und den Ölländern kamen. Die Hypothese ist allerdings kühn und die Details (und mögliche Gegenargumente) sind mir (noch?) unklar. Verfolgen sollte man diese Möglichkeit aber dennoch; ich kann mir durchaus vorstellen, dass die Hypothese von einem GLOBAL saving glut eine Desinformation darstellt. Nicht in dem Sinne, dass es nicht wirklich einen hohen Sparüberhang der Chinesen (und auch der Deutschen?) gäbe, sondern in dem Sinne, dass sich dahinter noch anderes verbirgt. Weil das so ist, unterstelle ich den Vertretern dieser Meinung auch keine BEWUSSTE Täuschung. Es könnte allerdings sein, dass die Interessenstruktur des Kapitals bereits so tief mit der Wissenschaftsstruktur der Ökonomie verfilzt ist, dass sie in einem objektiven Sinne nur noch Erkenntnisse "zulässt", welche den Kapitalinteressen dienen oder wenigstens nicht fundamental widersprechen, und alles andere ausblendet.


Nachträge 31.01.2010


Wenn man nur erst einmal die richtigen Begriffe ergoogelt, kommen die Artos-Phagen von allen Seiten auf einen zugeschossen: "Kapitalüberschuss", "Global Saving(s) Glut" - das sind die Zauberworte, welche den Sesam (oder den Hundezwinger?) der Internet-Texte öffnen.

In vieler Hinsicht vorzüglich (und erfreulich undogmatisch) stellt ein (offenbar marxistisch orientierter) Wirtschaftswissenschaftler Thomas Walter in seinem Artikel "Es gibt keine »Frühlingstriebe« " vom 12.06.09 auf der Webseite "Marx21" die Zusammenhänge dar. In dem Abschnitt "Was für eine lange Krise spricht" schreibt er u. a. (meine Hervorhebungen):
"Tendenziellen Fall der Profitrate als tieferliegende Ursache: Interessant ist, dass Ben Bernanke, der Chef der US-Zentralbank, eine Argumentation über die Ursachen der Krisentendenz vorbringt, die sozusagen anschlussfähig an die Theorie von Marx ist. Bernanke spricht von einer »Ersparnisschwemme« (»saving glut«). Es gäbe mehr Ersparnis als Investitionsmöglichkeiten. Es werden also Gewinne gemacht, die aber nicht rentabel angelegt werden können. Als Ursache für dieses »Überangebot an Ersparnis«, auch »Anlagenotstand« genannt, sieht Bernanke, dass in den entwickelten Volkswirtschaften inzwischen das Verhältnis von Kapital zu Arbeit sehr hoch sei. Dies ist nichts anderes als eine hohe »organische Zusammensetzung des Kapitals«, die bei Marx dem von ihm untersuchten und behaupteten »tendenziellen Fall der Profitrate« zugrunde liegt. ...
Linke Politiker sollten allerdings fordern, dass die Konjunkturpakete wie auch die Bankenhilfen durch eine Besteuerung der Reichen finanziert werden. Dann muss den Kapitalisten auch kein Geld zurück gezahlt werden.
"

Eine Inflation hält er mit einer originellen Begründung aus der Interessensphäre für unwahrscheinlich:
"Auch Linke befürchten manchmal, dass die Herrschenden absichtlich eine Inflation herbei führen könnten. Schuldner könnten dann ihre Schulden mit Geld zurückzahlen, das immer wertloser wird. ..... Die Inflation führte zu einer geräuschlosen Entschuldung der Konzerne. Eine solche Entschuldung erscheint auch jetzt für den Kapitalismus immer dringlicher zu sein, denn weltweit türmen sich die Schuldenberge. Allerdings stehen diesen Schulden die entsprechenden Forderungen der Gläubiger gegenüber. Diese Kapitalisten werden sich wehren, mit inflationiertem Geld abgespeist zu werden."
Mir fehlt die Zeit, um hier weitere relevante Passagen herauszuklauben; eine (natürlich nicht unkritische) Lektüre dieses Artikels kann ich nur empfehlen.
Walter spricht u.a. auch über "vier Kanäle des Recycling der Überersparnis" [Finanzierung von: Überkapazitäten (also Fehlinvestitionen der Unternehmen) / Staatskonsum (über Kredite - also nicht nachhaltig)/ Privatem Konsum (ebenfalls über Kredite und somit gleichfalls nicht nachhaltig; von W. vorgestellter Fachbegriff: "Finanzkeynesianismus") und Exportüberschüsse (letztlich ebenfalls eine Form der Kreditvergabe der Überschussländer an die Defizitstaaten)], die langfristig alle zu Schwierigkeiten führen (müssen - wie sich implizit schon aus meinen eingeklammerten Kurzerläuterungen ergibt).
Was Walter allerdings nicht sieht (oder als Marxist nicht sehen will?) ist der erhebliche Unterschied den es, gerade aus marxistischer Sicht, macht, ob die Überschüsse aus 'normaler' Kapitalakkumulation herrühren (also im Grunde das, was ich oben als Modell des Artos-Phagen-Modell in der Variante mit Kapitalisten erörtert hatte), oder ob (bzw. inwieweit) es sich um Überschüsse von Ölländern und/oder Ersparnissen von chinesischen Wanderarbeitern handelt. Hier war das Dogma (das über zahlreiche einschlägige Internet-Texte vielleicht auch auf mich eingewirkt hat, obwohl ich keineswegs Marxist bin) denn doch etwas stärker als das Erkenntnisinteresse. Insbesondere nimmt er mir Ben Bernanke etwas voreilig zum Bundesgenossen, denn dessen Theorie vom global saving glut verschleiert möglicher Weise den kapitalistischen Unterkonsum (einschl. Unterinvestition) im eigenen Beritt. [Ist also doch kein ganz ausgefuchster Marxist, der Thomas Walter ;-); während ich ... ]
In zwei Rezensionen von (nicht nur) linksorientierten Wirtschaftsbücher berichtet er über Forderungen nach einer Reichensteuer: "Nach dem Verursacherprinzip sollen die Reichen Steuern zahlen und damit einen Reservefonds finanzieren. So lassen sich vielleicht bei der nächsten Krise Belastungen der Bevölkerung abmildern" referiert er unter "Ende der Party", wo er die Bücher von Lucas Zeise ("Ende der Party: Die Explosion im Finanzsektor und die Krise der Weltwirtschaft, Papyrossa", Köln 2008) und Joachim Bischoff ("Globale Finanzkrise. Über Vermögensblasen, Realökonomie und die „neue Fesselung“ des Kapitals", Hamburg 2008) bespricht.
Dass Sarah Wagenknecht eine Besteuerung von Finanzvermögen fordert, versteht sich von selbst (vgl. Walters Rezensionsartikel "Wahnsinn mit Methode" u. a. über Sarah Wagenknechts gleichnamiges Werk).

Rainer Roth, ebenfalls offenbar Marxist, führt in seinem Vortrag "Finanz- und Wirtschaftskrise: Ursachen und „Lösungen“" vom 07.11.09 u. a. aus:
"Die Bankrenditen sind ... gerade wegen des Kapitalüberschusses, den die Realwirtschaft produziert, deutlich gefallen. Der Kapitalüberfluss führt zu tendenziell sinkenden Zinsen und zum Fall der Zinsspannen, d.h. des Verhältnisses von Zinsüberschuss zur Bilanzsumme (vgl. Roth, Finanz- und Wirtschaftskrise: Sie kriegen den Karren nicht flott ... , Frankfurt 2009, 8-5/12 Rainer Roth: Finanz- und Wirtschaftskrise - Ursachen und „Lösungen“ 11; www.klartext-info.de). Zinsen aus Kreditgeschäften sind aber die Haupteinnahmequelle der Banken.
Der von Banken verwaltete Kapitalüberschuss selbst wiederum ist eine Folge der Verschlechterung der Verwertungsbedingungen des Kapitals insgesamt. Sinkende Investitionsquoten, Druck auf die Löhne, auf Steuern usw. spiegeln die Probleme der Kapitalverwertung wieder (vgl. Roth, Finanz- und Wirtschaftskrise: Sie kriegen den Karren nicht flott ... , Frankfurt 2009, 47-50). Der Fall der Bankrenditen war der Motor für die inflationäre Ausbreitung von abenteuerlichen Geschäftspraktiken, mit möglichst wenig Eigenkapital Gewinne zu machen.
"
Auch er wandelt auf traditionellen marxistischen Pfaden und wirft Überschüsse in einer Volkswirtschaft mit Überschüssen zwischen Volkswirtschaften in einen Topf. (Und erzählt im Übrigen blanken Unfug in seinem Artikel "Agenda 2010 - Hintergründe und Alternativen" aus dem Jahr 2003 auf der Webseite "Linksruck", wenn er schreibt (meine Hervorhebungen):
"... sinkt die Nachfrage nach Arbeitskraft mit steigender Produktivität der Arbeitskräfte. Deshalb erzeugte das Wirtschaftsystem in den letzten 30 Jahren eine Schere zwischen arbeitssuchenden Arbeitskräften und der relativ dazu geringer werdenden Zahl offener Stellen." Wäre das in dieser Absolutheit wahr, müssten seit Marxens Zeiten angesichts der Produktivitätszuwächse die Beschäftigung gegen Null gesunken sein.
Die Aussage steht auch in einem gewissen Widerspruch zu seiner eher zutreffenden Feststellung:
"Die Investitionsquote nimmt seit den 70er Jahren ab. Der Reichtum, der erzeugt wurde, fliesst relativ immer weniger in produktive Investitionen und immer mehr in Finanzanlagen. Von 1991 bis 2000 wuchs das Kapital in Finanzanlagen von 7821 Milliarden DM auf 20880 Milliarden DM. Das Sachanlagevermögen (ohne Wohnungsbau) wuchs nur um 1800 Milliarden DM auf 4500 Milliarden DM. Der Kapitalüberschuss fliesst überwiegend in Kredite, den Kauf von Wertpapieren oder in Aktien, d.h. in Firmenübernahmen, Käufe von Beteiligungen oder Spekulation sowie in Luxuskonsum [DAS wäre kein Problem für die Realwirtschaft, sofern es sich nicht um einen "Serailmarkt" -s. o.- handelt!]. Der Kapitalüberschuss war die Grundlage der Aktienhysterie und des Börsencrash, der folgte. Er ist die Grundlage der ungeheuer gestiegenen Verschuldung des Staates, der Unternehmen und der Konsumenten. Er lähmt immer mehr die produktiven Investitionen, statt sie zu fördern. Das Kapital selbst ist die Schranke der Investitionen, nicht ein angeblich durch LohnarbeiterInnen, d.h. durch Sozialausgaben und überhöhte Löhne, verursachter Kapitalmangel. Es ist gerade die steigende Produktivität und der gestiegene Reichtum, die unter der Regie des Kapitals zur Bedrohung werden."

Auf der Webseite der den Grünen nahe stehenden Heinrich-Böll-Stiftung finden wir das Manifest "Aufbruch und Wandel – Regelwerke für einen New Green Deal" [Mehr zu diesem Begriff z. B. in der Wikipedia] des im Wikipedia-Eintrag als "Philosophen und Ethiker" bezeichneten Konrad Ott (unter Mitarbeit von Anne Klatt).
Bislang habe ich lediglich die Kurzversion überflogen, von der ich (für mich selbst ebenso wie für meine Leserinnen und Leser) vorläufig folgende Passagen festhalten möchte (Hervorhebungen von mir):
"Beginnen wir mit einer Kritik an der Denkform des Neoliberalismus. Diese Denkform besteht aus bestimmten Grundannahmen und daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen: Individuen und Unternehmen, die (nur) so agieren, dass sie ihren individuellen Nutzen maximieren; Märkte als Koordinationsprinzip, was den Teilnehmern den größten Wohlstand verschafft und umso effizienter funktioniert, je weniger rechtliche Regulierung es gibt und je mehr Bereiche marktwirtschaftlich organisiert sind. Die Akteure dürfen und sollen innerhalb der rechtlichen Rahmenordnung ihren Nutzen maximieren. Die Maximierung des eigenen Nutzens ist ex definitione "rational". Für die Vertreter dieser Denkform ist es demnach rational, in guten Jahren Profite zu privatisieren und in schlechten Jahren Verluste der Allgemeinheit aufzubürden. Diese Strategie ist ebenso rational wie „moral-hazard“-Verhalten, wie „free riding“ auf Kosten anderer und wie das Abwälzen externer Effekte. Es ist daher im Moment in diesem Sinne rational, möglichst viele Folgekosten der Krise auf staatliche Haushalte, Arbeitnehmer und die natürliche Umwelt abzuwälzen. Ebenso rational ist es, in den Details der "bad-bank"-Konzeptionen versteckte Klauseln einzubauen, die den Banken nutzen und dem Staat schaden. Und man soll nicht vergessen, dass für die ökonomische Rationalität die menschliche Sprache nur ein Instrument intelligenter Nutzenmaximierung ist. Daher kann es bei passender Gelegenheit rational sein, zu rufen, dass „wir alle im gleichen Boot sitzen“. Alles in allem lässt sich aus der Finanzkrise soviel lernen, dass habitualisierte Nutzenmaximierer auch in Krisenzeiten ihren Verhaltensmaximen treu bleiben. Viel mehr als diese Erwartung in intelligentes strategisches Verhalten von Wirtschaftseliten ist von den Versprechungen des Neoliberalismus nicht übrig geblieben. Eine tiefer gehende Veränderungsbereitschaft wäre aus Sicht dieser Gruppen irrational und ist nicht zu erwarten.
Man muss natürlich über eine Analyse der Denkform realökonomische Ursachen der Finanz- und Wirtschaftskrise identifizieren können, wenn man ernsthafte Therapievorschläge unterbreiten möchte. Plausibel scheint der marxistische Ansatz der Überakkumulationskrise, die durch gesättigte Märkte, Überkapazitäten, zu geringe Massenkaufkraft in den wirtschaftlichen Zentren und die Ansammlung hoher Geldvermögen gekennzeichnet ist. In neoklassischer Terminologie kann man von der „global-saving-glut“-Hypothese ausgehen, wonach dieses Sparvermögen auf der Suche nach lukrativen Renditen um den Globus zirkuliert. …. [Ob man beides einfach so als zwei Seiten derselben Münze ansehen kann, möchte ich allerdings bezweifeln.]
Die Finanz- und Wirtschaftskrise sind nicht isoliert zu sehen. Sie verbindet sich mit einer Krise des Wachstumsparadigmas, einer strukturellen Armuts- und Entwicklungskrise und einer umfassenden Natur- und Klimakrise. Deren Syndrome wie Zerstörung von Ökosystemen, Unterernährung, Kriegen um Ressourcen, Enteignung und Vertreibung, Flüchtlingsströme, Artensterben und Klimawandel greifen zunehmend ineinander über. …
Die Syndrome der Krisen greifen zunehmend ineinander. Eine politische Debatte müsste die spezifischen Zusammenhänge innerhalb dieser Syndromverflechtung analytisch präzise und normativ klar herstellen. …..
Eine langfristig angelegte und tief greifende wirtschaftspolitische Reformstrategie wäre ein echter „Green New Deal“ für entwickelte Volkswirtschaften. Es geht hierbei nicht nur um die Regulierung von Finanzmärkten und um staatliche Investitionen, sondern um ein umfassendes Konzept für eine in mehreren Hinsichten gerechtere und nachhaltige Wirtschaftsweise. Diese Idee reicht daher sehr viel weiter als bis hin zu Abschätzungen, wie viele Prozent eines Konjunkturprogramms einen Umweltbezug haben mögen. Maßgabe müssen Ziele und Grundsätze sein, die nicht der Logik von Effizienz und Nutzenmaximierung entstammen, sondern aus der Zivilgesellschaft kommen. Die Orientierungsvokabel „Green New Deal“ ist mittlerweile in aller Munde; [na ja: in „aller“ Munde ist sie ganz bestimmt NICHT! Bestenfalls in den einschlägig interessierten und informierten Kreisen ist überhaupt der Begriff bekannt!] was noch fehlt, ist ihre programmatische Untersetzung. …..
Ein Element eines solchen umfassend gerechten Systems könnte ein zulässiges Höchsteinkommen sein. Wenn die wirtschaftliche Tätigkeit von Menschen zwar monetärer Anreize, aber nicht eines unbegrenzt hohen Einkommens bedarf, sprechen ethische Gründe für eine 100%ige Besteuerung ab einer festzulegenden Höhe des Einkommens. Dazu gibt es verschiedene Ansätze, darunter den, dass Monatsgehalt eines Spitzenverdieners nicht das Jahresgehalt eines Durchschnittsverdieners überschreiten sollte. Eine gerechte Erbschaftssteuer sollte so bemessen sein, dass die Vermögenden zum Aufbau zukunftsfähiger Infrastrukturen und ökologischer Modernisierung beitragen und keine unverdienten Ungleichheiten auf Seite der Erben entstehen, jedoch ohne das Recht darauf legal erworbenes und bereits versteuertes Eigentum auf die Nachkommen zu übertragen, abzusprechen. [Ob das nicht ein Widerspruch ist? Was ist mit den Tantiemen, die Erben derzeit aus geistigem Eigentum
kassieren können?] Die Erbschaftssteuer ist auch ein Korrektiv für ungleiche Chancen zum Vermögensaufbau, die bspw. durch die Teilung Deutschlands nach 1945 entstanden waren. Durch das zulässige Höchsteinkommen und die Erbschaftssteuer erübrigt sich eine zusätzliche Vermögenssteuer. Jedoch könnte man für große Geldvermögen die Pflicht einführen, dass ein bestimmter geringer Anteil des Vermögens in niedrig verzinste staatliche Anleihen, die hohe Sicherheit bei wenig Risiko bieten, angelegt werden muss. Dieser moderate Eingriff lässt sich leichter rechtfertigen und breitere Akzeptanz erwarten."
Die Zwangsleihe könntet eine zumindest teilweise brauchbare Alternative zur teilkonfiskatorischen Besteuerung sein; dies jedenfalls dann, wenn es auf eine - und sei es nur inflationsbedingt - teilkonfiskatorische Zwangsleihe hinaus läuft. ;-) ]"
Aber auch Ott nimmt nur den "Kapitalisten" in den Blick, nicht die Volkswirtschaften untereinander (und nicht einmal die Kapitalsammelstellen, das Kapitaldeckungsverfahren zur Altersrentenfinanzierung, die Rohstoffländer).
So gern ich mich an der Hatz auf die Bezieher leistungsloser Einkommen beteilige: Lösungen für die Probleme müssen das ganze Feld der ökonomischen Zusammenhänge im Blick haben, sonst verschärfen sie sie u. U. nur. (In diesem Sinne habe natürlich auch ich bestenfalls einen Denkanstoß gegeben, nicht etwa einen ausgereiften Lösungsvorschlag unterbreitet.)
Im übrigen glaube ich im Gegensatz zu Ott nicht, dass mehr Verteilungsgerechtigkeit, womöglich gar im Weltmaßstab, ein Segen für die Umwelt wäre. Der Umwelt sind 10 Mio. SUVs mit Sicherheit lieber als 100 Mio. Suzukis.


Einschub 16.02.2010

Andrew Kaplan, "a hedge fund manager" hatte am 31.08.09 in einem Gastbeitrag (Guest Post) auf der Webseite "Naked Capitalism" unter dem Titel The Savings Rate Has Recovered - if You Ignore the Bottom 99% aufgrund einiger einfacher aber schlüssiger Überlegungen eine Bierdeckelrechnung darüber angestellt, welche Einkommensgruppen in den USA sparen. Er kommt zu dem Schluss, dass im Durchschnitt offenbar nur jene 1 Prozent der US-Haushalte Ersparnisse bilden, die an der Spitze der Einkommenspyramide stehen. Die restlichen 99% verschulden sich weiter. Wenn das zutrifft, muss sich zwangsläufig noch mehr Geld bei den Reichen akkumulieren; mein Artos-Phagen-Ökonomiemodell wäre von der Wirklichkeit bestätigt.
Hier auch ein Auszug zur Einkommensverteilung:
"Economists Thomas Piketty and Emmanuel Saez have made careers of studying US income inequality using IRS [Internal Revenue Service, die Steuerbehörde der US-Bundesregierung] data, which goes back to 1913. The most recent data available (for 2007) showed that the top 14,988 households (0.01% of the population) received 6.04% of income, the highest figure for any year since the data became available. The top 1% of households received 23.5% of income (the second highest on record, after 1928) [also ebenfalls im Jahr vor einer Weltwirtschaftskrise!], while the top 10% received 49.7% of income (the highest on record)."
[Zu meiner Vorstellung, wie die Kapitalakkumulation bei den Besitzenden funktioniert, vgl. auch meinen Blott "DISKURS ÜBER DIE GRAVITATION DES GELDES oder TRICKLE DOWN ECONOMY FUNKTIONIERT DOCH!"]


Nachtrag 23.02.2010

Näher zu den Vorstellungen von Heiner Flassbeck vgl. den Gemeinschaftsartikel (mit ) vom 14.11.08 auf "Le Monde Diplomatique": "Im Bauch des Sparschweins. Warum Sparen keine Vorsorge für die Zukunft ist und acht Vorschläge, es anders zu machen". Die Kritik der Autoren am Kapitaldeckungsverfahren als Methode der Rentenfinanzierung teile ich natürlich; für eine intensive Auseinandersetzung mit den weiteren Argumenten fehlt mir die Zeit. Zum Vorwurf des (u. a.) deutschen "Lohndumpings" siehe aber oben!



Unredlich wäre es zu verschweigen, dass mich mein vorliegender Text in gewisser Hinsicht in Widersprüche mit mir selbst verwickelt.
Als "Kleiner Mann" wünsche ich mir zumindest eine Aufrechterhaltung meines Konsumpotentials; Steigerung wäre natürlich besser; entsprechend bin ich als potentieller Nutznießer an einer boomenden Wirtschaft interessiert. Als Ressourcenpessimist müsste ich dagegen eigentlich für eine Verminderung des Stoffdurchsatzes in der Wirtschaft eintreten. Tatsächlich habe ich in meinem Aufsatz "Nur die totale Entfesselung des Kapitalismus rettet unsere Umwelt!" auf meiner Webseite Drusenreich 4 unsere Wirtschaftsordnung mit ihrer Geldkonzentration bei den bereits Vermögenden sogar dafür gelobt, dass sie der breiten Masse Konsumpotential entzieht - und das war nicht einmal in vollem Umfang sarkastisch gemeint. Als nicht interessierter Beobachter könnte man eine solche Tendenz zur Konsumkürzung in Bezug auf die Umwelt tatsächlich als eine "heilende" Kraft ansehen. Denn dass es der Umwelt besser ginge, wenn es uns allen besser ginge (d. h. wenn wir noch mehr konsumieren könnten), ist wohl eher unwahrscheinlich.
Andererseits: was ich nicht der Umwelt entnehme oder womit ich sie nicht verschmutze, das tun die Chinesen.
Dann will doch lieber ich die Umwelt ruinieren - und wenigstens eine schöne Zeit dabei haben. Für meine restliche Lebenszeit wird sie wohl noch durchhalten, die Umwelt.
Denn im Gegensatz zu (vermutlich) Konrad Ott sowie zu Heiner Flassbeck (vgl. dessen Aufsatz "Wachstum und Ökologie" vom 23.12.2009) glaube ich eher weniger an die Vereinbarkeit von Ökonomie (= unsere Bedürfnisse und unsere weit darüber hinausgehenden Wünsche) und Ökologie.


Apercu (31.01.10):

Mein Eintrag wird mittlerweile derart lang und zerfasert sich in so viele Richtungen, dass manche Leser an verbale Umweltverschmutzung denken mögen.
Indes will ich lieber mentales Magma sein als dogmatisch erstarrte Gedankenlava.


Nachtrag 29.03.10
Eine im vorliegenden Zusammenhang wichtige Information präsentiert Mathias Ohanian in dem Blog (?) "Chefökonom" der Financial Times Deutschland, ("Thomas Frickes Tagebuch aus der Welt der Wirtschaftswunder - über wunderbare Wachstumstrends, wundersame ökonomische Klischees und wundervolle wie verwunderliche Theorien"). unter der Überschrift "Neue Denker, die neue FTD-Reihe (3) - Wenn Reiche zu wenig Steuern zahlen" erfahren wir dort heute:
"Bis vor Kurzem bewegte es vor allem Sozialforscher und Linke, wenn Einkommen stark auseinander drifteten. In den etablierten Modellen der Ökonomie galt der Leitsatz, dass Einkommensgefälle per se gut sind, weil sie die Leistungsanreize erhöhen. Seit ein paar Jahren zweifeln aber auch Ökonomen an dem Leitsatz. Darunter ist der international renommierte französische Wissenschaftler Thomas Piketty, der in Langzeitstudien herausfand, dass großen Finanzkrisen oft ein besonders krasses Auseinanderdriften der Einkommen voraus ging. .....
... Piketty [wertete] mit Oxford-Ökonom Anthony Atkinson und Berkeley-Kollege Emmanuel Saez aus, wie sich Einkommen und Vermögen seit Anfang des 20. Jahrhunderts rund um den Globus entwickelten. Ergebnis: Das oberste ein Prozent der US-Bevölkerung verdiente 1928 ... fast ein Viertel der Einkommen. ... Der Anteil des obersten Prozent der Bevölkerung stieg steil und erreichte 2006 ... 23 Prozent. Wieder erwirtschaftete das reichste ein Prozent ein Viertel des Einkommens. .....
Piketty schlägt vor, extrem hohe Einkommen auch extrem zu belasten. So könnten Gehälter von über einer Million E mit 80 Prozent Einkommensteuer belegt werden.
"

Klar, dass der unseren Lesern notorisch bekannte Leser-Kommentator Cangrande wieder etwas zu mosern findet:
"Wenn die Finanzbranche zu stark wachse, fördere dies das Einkommensgefälle, weil entsprechende Vermögensgewinne vor allem den obersten Einkommen zugute kämen" - Da müsste es doch möglich sein, noch tiefer zu bohren und zu hinterfragen, welche Strukturen und Mechanismen die Finanzbranche anwachsen lassen. Wo ist hier überhaupt die Henne, wo das Ei? Werden die Reichen reicher, weil die Finanzbranche wächst, oder wächst nicht vielmehr die Finanzbranche, weil die Reichen so reich geworden sind, dass der Rest der Menschheit nur noch auf Pump leben kann (sozusagen)? Dieser Frage bin ich in meinem Blog-Eintrag "Die Ökonomie der Artos-Phagen: Warum eine eigentumsbasierte Geldwirtschaft (im Basismodell) nicht dauerhaft funktionieren kann" nachgegangen. Aber auf jeden Fall danke, dass Sie uns diese Information über Piketty hier präsentieren!"


Nachtrag 30.03.2010

Zur Unterkonsumtionstheorie vgl. auch den Artikel "Die ersten Gedanken über das Nachfrageproblem und die ersten Theorien. J.-C.-L. Sismondi: Das Nachfrageproblem als Verschiebung des Einkommens" auf der Webseite Forum-Systemfrage. Einleitung:
"Der Verbrauch einer reichen Pächterfamilie zusammen mit dem Verbrauch von fünfzig Familien ärmster Tagelöhner wiegt für die Nation nicht den Verbrauch der früheren fünfzig Bauernfamilien auf, von der zwar keine reich war, aber doch in bescheidenem Wohlstand lebte. Ebenso verhält es sich in den Städten; denn der Verbrauch eines Industriemillionärs, der tausend Arbeiter für sich arbeiten läßt, die gerade das Existenzminimum verdienen, bringt der Nation nicht so viel wie der Verbrauch von hundert weitaus weniger reichen Fabrikanten, von denen jeder zehn viel weniger arme Arbeiter beschäftigt.
J. C. L. Simonde de Sismondi, Neue Grundsätze der politischen Ökonomie.
"



Nachtrag 12.04.11
Anstatt die automatische Verlagerung des Geldbesitzes (durch den Zinsmechanismus) zu den Reichen zu verhindern oder zumindest zu behindern, schont die Fiskalpolitik unseres Staates die Vermögen, indem die Vermögenssteuer abgeschafft wurde (1995) und auch die Erbschaftssteuer die Vermögen nicht wirksam reduziert. Die Folge:
"Zwischen 1999 und 2009 sank der Anteil der Erwerbseinkommen am Gesamteinkommen in Deutschland von 70 auf 61 Prozent, im gleichen Ausmaß stieg der Anteil der Kapitaleinkünfte."
So zu lesen in dem Artikel "Ungerechte Besteuerung. Warum Deutschlands Reiche immer reicher werden" auf Spiegel Online vom 11.04.11. Aber das ist zweifellos nicht nur in Deutschland so.


Nachtrag 19.10.2011
Dirk Müller, ehemaliger Börsenhändler und in der Öffentlichkeit als "Mr. Dax" bekannt, vertritt in dem Handelsblatt-Interview "Wir sind in der Endphase" vom 18.10.2011 die gleiche Auffassung wie ich sie oben entwickelt habe:
"Unser Finanzsystem ist am Ende. In den USA beträgt die Gesamtverschuldung der Bürger, des Staates und der Industrie bereits 400 Prozent des Bruttoinlandsprodukts – das ist historisch einmalig. Das führt dazu, dass ein großer Teil dessen, was die Bürger erwirtschaften, für Zinsdienste abfließt. Diese Zinsen werden in der Regel nicht wieder in die Wirtschaft investiert, sondern stapeln sich bei denjenigen, die bereits sehr viel besitzen. Das soll nicht klassenkämpferisch klingen – ich gehöre keiner Partei an. Ich erkläre nur, wie das System funktioniert beziehungsweise dass es nicht ewig funktioniert. ..... Das Problem ist ...: Über die Jahrzehnte sammelt sich das Geld bei immer weniger Menschen an, während die Masse immer weniger davon hat."


Nachtrag 08.04.2013
Inzwischen bin ich auf dem Felde der Geldtheorie wesentlich vorangekommen (im Verhältnis zu meinem eigenen früheren Kenntnisstand; ob auch im Verhältnis zum wirtschaftswissenschaftlichen Debattenstand, kann ich nicht beurteilen, da ich den nicht wirklich überblicke). Ich verweise dazu auf meinen Blott "Einen Kredit gibt es nicht. 100 Jahre 'Kredittheorie des Geldes' (Credit Theory of Money) von Alfred Mitchell Innes" vom 28.03.2013.


Nachtrag 14.12.2022




Textstand vom 14.12.2022


P. S.: Meine Wissensdefizite bezüglich des Sättigungswertes einer allein auf Brot basierten Nahrung ("stiller Hunger") mindert nunmehr das sehr ausführliche und unbedingt lesenswerte ZEIT-Gespräch von Andreas Sentker mit dem Ernährungsexperten Joachim von Braun
"Brot allein macht nicht satt" vom 08.01.10. ;-)

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