Samstag, 4. Februar 2006

Propheten-Karikaturen und Palästinenserfrage


"Kommunikation muss anschlussfähig sein" hatte ich in meinem Eintrag vom 28.01.2006 zur Debatte um eine deutsche Atombewaffnung ("Scholz-Bombe") gesagt.

An die Debatte über die Mohammed-Karikaturen oder Propheten-Karikaturen und an meine eigene Positionsbestimmung in dieser Debatte (BÄRENGALLE; PROPHETEN; PROFESSORENPOSSE vom 02.02.06) schließe ich – schon länger gehegte – Überlegungen zur Palästinafrage (Palästinenserfrage) an.

Die Auseinandersetzung zwischen den Palästinensern und Israel ist der Katalysator, oder der Brennpunkt, oder – man fürchtet sich, es auszusprechen: der Zünder für die massive Frontenbildung der islamischen Staaten gegen die westliche Welt. Die tiefere Ursache ist er nicht, aber er ist derjenige Punkt, der einer politischen Behandlung allenfalls noch zugänglich ist. Die Strukturen und Mentalität der arabischen und islamischen (wie auch der schwarzafrikanischen) Länder können wir von außen nicht so verändern, dass wir diese auf den Weg einer Entwicklung zu Wohlstand und unserer Form von Demokratie befördern könnten. Wenn das nicht von selbst passiert, passiert es gar nicht. Das schließt natürlich nicht aus, dass wir versuchen, vielfältige Hilfe und Anregungen zu geben, aber ich bin skeptisch, ob wir die doppelte Barriere von religiöser Überformung aller Lebensbereiche und clanartigen Familienbindungen, wie sie in den islamischen Ländern vermutlich einer Modernisierung entgegen stehen, letztlich überwinden können.
(Denkbar erscheint mir sogar, dass wir eines Tages selbst in derartige Zustände zurückfallen, indem wir z. B. ein nicht mehr integrierbares Maß an Immigration zulassen. Insoweit hat die Leitkultur-Debatte durchaus ihre Berechtigung.)


In der Palästinenserdebatte ist es für Europa an der Zeit, Schluss mit der Diplomatie zu machen. Dies nicht im Sinne von Clausewitz, dass nun die Politik auf gewaltsamem Wege fortgesetzt würde. Sondern in dem Sinne, dass nunmehr Politik an die Stelle von Diplomatie treten sollte.

Wenn ich hier einen Gegensatz konstruiere, der in der üblichen Verwendung dieser Begriffe nicht enthalten ist, äußere ich zugleich eine Meinung. Die Meinung nämlich, dass Diplomatie im herkömmlichen Sinne das Problem nicht lösen kann (vielmehr es sogar verschärft). Und dass ein anderer Ansatz, zunächst auf der analytischen Ebene der "großen" Politik, erforderlich ist, um unsere außenpolitischen Aktivitäten in der Palästinafrage (die natürlich in einem rein technischen Sinne immer "Diplomatie" bleiben) in der Wahrnehmung der Palästinenser, der Araber und der moslemischen Welt neu zu positionieren.


Auch Politik sucht "Anschluss", "Freunde", "Bündnisse" usw. Sie neigt deshalb dazu, sich jeweils der einen oder anderen Position entweder real anzunähern, oder doch eine Nähe vorzutäuschen. Ganz schlimm ist für Diplomaten der Gedanke, zwischen allen Stühlen zu sitzen.

Genau in dieser scheinbar äußerst unkomfortablen Lage zwischen allen Stühlen möchte ich aber Europa in der Palästinafrage positioniert sehen.
Weil man nur von dort längerfristig für alle Seiten glaubhaft wird. Es wäre letztlich genau jene Behandlungsform, welche die Diplomaten bislang mit den Mittelchen ihrer traditionellen Hausapotheken probieren: eine Vertrauen bildende Maßnahme.

Wie schafft man es, diesen Platz zwischen allen Stühlen zu besetzen? Das ist in der Politik genau so leicht wie im richtigen Leben: man muss einfach nur ehrlich sein. Man muss sich selbst die Wahrheit eingestehen, und den Konfliktparteien (sowie dem Rest der Welt) die Wahrheit sagen.

Die Wahrheit im Palästinakonflikt ist bitter. Es gibt keine gerechte Lösung. Ungerecht war, dass die Israelis das Land besetzt und die Palästinenser vertrieben haben. Ungerecht wäre es (von der faktischen Unmöglichkeit einmal abgesehen) aber auch, sie von dort wieder vertreiben zu wollen. Und gänzlich unmöglich wäre es, Palästinenser und Juden in einem Staat so zu vereinen, dass die Palästinenser die Mehrheit hätten. Beide Seiten sind stark religiös motiviert; auch Israel ist letztlich kein wirklich säkularer Staat in unserem Sinne, sondern ist begründet in der jüdischen religiösen Tradition.

Die einzige überhaupt denkbare Lösung ist eine solche auf der Basis der historisch "gewachsenen" Fakten, also zwei Staaten. Das ist, muss man wiederum ehrlich sagen, für die Palästinenser sehr viel härter als für die Israelis.

1) Der Palästinenserstaat wird ökonomisch nicht lebensfähig sein, und zwar auf Dauer nicht (selbst wenn man vom Problem der Wasserversorgung einmal absieht).

2) Die jetzt in Flüchtlingslagern lebenden Palästinenser werden, schon aus ökonomischen Gründen, kaum in größerer Zahl in "ihren" Staat zurück kehren können. Und

3) kommt auch eine Teilung Jerusalems (oder eine "diplomatische" Missgeburt in Form einer Stadt unter internationaler Kontrolle) nicht in Betracht. Eine Aufgabe von Ostjerusalem kann den Juden aus historischen Gründen nicht zugemutet werden.
Inhaltlich ist das vielleicht nichts Neues, sondern steckt stillschweigend hinter den diplomatischen Initiativen der Europäer. Neu wäre indes, dass man das Ziel von vornherein kommuniziert. Es ist nicht Brauch im Diplomatenbasar (oder auf dem Flohmarkt), dass man sein äußerstes Angebot gleich am Anfang der Verhandlungen abgibt.

Was bei den Nahost-Verhandlungen abgeht, ist klar: wir hofften den Volkswillen – speziell den palästinensischen - über die Politiker als "Transmissionsriemen" beeinflussen zu können. Auch wenn das palästinensische Parlament auf das Ziel einer Vernichtung Israels verzichtet hat: das Volk hat es sicherlich nicht (und vielleicht auch viele von den Parlamentariern nicht, die dafür gestimmt haben). Gerade deswegen wäre es wichtig, von unserer Seite aus auch und gerade dem Volk auf beiden Seiten zu sagen, was nach unserer Meinung geht, und was nicht geht. Und was man mit uns machen kann – und was nicht. Nur wenn die breiten Massen einsehen, dass sie nicht mit dem Kopf durch die Wand kommen, kann man vielleicht etwas bewegen. Diese Einsicht ist, vermute ich, bislang dort nicht im notwendigen Umfang vorhanden.

Israel hätte die Souveränität eines palästinensischen Staates zu akzeptieren, und selbstverständlich sämtliche Siedlungen im Westjordanland - "West Bank" - zu räumen. Das durchzusetzen, wird dort innenpolitisch ebenfalls nicht einfach sein, ist aber objektiv gesehen ein relativ kleines Opfer im Vergleich zu dem, was den Palästinensern zugemutet werden muss.

Allzu sehr hat sich leider Israel daran gewöhnt, jener Schwanz zu sein, der den amerikanischen Hund nach Belieben wedeln kann. Es ist zunächst einmal die Sache der USA selbst, ob sie sich auch in Zukunft weiter wedeln lassen wollen.

Wir Europäer jedenfalls müssen eine eigenständige Position finden, und diese nach allen Seiten offensiv vertreten. "Offensiv" meine ich auf der argumentativen Ebene. Ob die Konfliktparteien eine solche Lösung akzeptieren oder nicht, muss ihre eigene Sache bleiben. Wir können unsere (goldgefüllte) Hand ausstrecken. Öffnen sollten wir sie aber erst dann, und nur für den, der sich klar zu einer solchen Lösung bekennt. Basardiplomatie klassischen Stils hat "da unten" keine Chancen mehr und kann für die Bevölkerung nicht glaubhaft sein. Es ist völlig verständlich, wenn die Menschen dem misstrauen, was im fernen Oslo oder sonst wo in irgendwelchen wohlklimatisierten Konferenzsälen ausgekungelt wird. Ich zumindest hätte, als Palästinenser, vor dem Hintergrund der bisherigen Erfahrungen keinerlei Vertrauen. Nur wenn die Lösung vorher auf den Tisch gelegt wird, mit der Geste: nehmt sie, oder lasst es bleiben, aber auch mit dem ehrlichen Hinweis, dass es keine gerechte Lösung ist, weil es aus diesem Problem keinen gerechten Ausweg gibt, können sich die Menschen auf beiden Seiten orientieren. Und nur auf diese Weise können wir Europäer unsere Unparteilichkeit überzeugend kommunizieren.

Nicht, dass man uns diese Unparteilichkeit einfach so abnehmen wird. Besonders auf Seiten der Palästinenser wird man, aufgrund der oben geschilderten disproportionalen Lastenverteilung (diese aus historischer Sicht und aus dem zu vermutenden palästinensischen Verständnis von "Gerechtigkeit" heraus gesehen; in der Praxis würden sich die Palästinenser gegenüber der jetzigen Lage natürlich besser stehen, weil sie volle staatliche Souveränität und volle Hoheit über das Westjordanland gewinnen würden) eine solche Position eher als Israel-freundlich empfinden. Aber auch auf Seiten der Juden wird es Stimmen geben, die uns – speziell uns Deutsche – zu Geiseln unserer unseligen jüngsten Geschichte machen und daraus eine spezifisch deutsche Verpflichtung zur Unterstützung Israels herleiten wollen.

Indes kann eine wirklich dauerhaft tragfähige Lehre aus unserer, wie aber auch aus jeglicher anderen Geschichte, nur eine sein: Unparteilichkeit und Fairness nach allen Seiten, unter Wahrung der eigenen Interessen. Wir Europäer können den Konfliktparteien diplomatische Hilfen (also doch "Diplomatie"? Ja – aber nur in jenem Maße, wie sie auf der Grundlage vorher festgelegter und offensiv kommunizierter Ziele noch möglich und erforderlich ist!) anbieten, und den Palästinensern wirtschaftliche Unterstützung.

Wer von den beiden sich auf die vorgeschlagene Lösung nicht einlassen mag, soll sehen, wie er klar kommt. Es geht nicht an, dass die EU Hilfen zahlt, wenn ihre Büros besetzt werden: das ist der sicherste Weg, in den Augen der Kontrahenten (hier speziell der Palästinenser) jeglichen Respekt zu verlieren.
Wenn uns die eine oder die andere Seite auf die ausgestreckte Hand haut, müssen wir diese Sterntalerhand zurück ziehen. Die Demonstration von Selbstachtung und von harter Konsequenz ist nicht bequem; sie gehört aber zu einer glaubwürdigen Kommunikation.


Nur wenn wir uns von dem Ziel verabschieden, die Welt zu retten, können wir sie vielleicht ein wenig besser machen. Nur wenn wir uns von keiner der beiden Parteien auf dem Kopf herumtanzen lassen, und dies wieder und wieder und in allen möglichen Situationen entschlossen kommunizieren, können wir – vielleicht – den einzig möglichen Kompromiss durchsetzen. Und hoffen, dass eine zunächst äußere, von beiden Seiten lediglich unter dem Zwang der Verhältnisse akzeptierte, Lösung im Laufe der Zeit durch Gewöhnung zumindest halbwegs erträglich erscheint.
Auch die US-Regierung wird irgendwann einsehen, dass sie ein größeres Maß an Äquidistanz einnehmen muss, als sie bisher getan hat. Langfristig gesehen, dient das – auch wenn viele in Israel, und viele Wähler in den USA, denen das Wohl Israels am Herzen liegt, das anders sehen werden – auch den Interessen Israels.


Wenn es gelingt, auf die oben skizzierte Weise durch ein Neues Denken und eine neue Positionierung Europas und letztlich auch der USA die Palästinafrage wieder in Bewegung und zu einer zumindest äußerlichen Lösung zu bringen, wäre der Impuls, der aus Auseinandersetzung um die Mohammed-Karikaturen entstanden ist, letztlich fruchtbar geworden.


Dass wir parallel dazu auch einige andere Überlegungen anstellen müssen – Türkei und EU, Russland und EU – will ich in der vorliegenden Politbilanz zunächst nur als Erinnerungsposten mit 1,- € ansetzen.
Es könnte immerhin sein, dass der von den Wikinger-Nachfahren ausgehende Kulturenkonflikt uns zu der schmerzhaften Einsicht führt, dass wir uns bezüglich der Integrationsfähigkeit und des Integrationswillens unserer Kultur selbst belogen haben.
Was Russland angeht, ist die EU perspektivlos.
Um diese Dinge näher auszuführen, warten wir auf die Gelegenheit einer vielleicht einmal aufkommenden anderen Debatte, welche in diese Richtungen anschlussfähig sein könnte.

Im übrigen bestätigen mich diese Vorgänge in meiner Forderung, dass der europäische Sauhaufen sich politisch enger zusammen schließen muss, um den gewissermaßen 'plattentektonischen' Risiken im Zeitalter der Globalisierung gewachsen zu sein. (Allerdings nicht, um wilde Wikinger nibelungentreu zu unterstützen. Auch in Europa dürfen wir es nicht zulassen, dass der Schwanz mit dem Hund wedelt.)


Nachtrag vom 16.04.2006: Eine Karte der israelischen Siedlungen auf der "West Bank" fand ich zunächst auf einer privaten Webseite "KrysTal" sowie (deutlich weniger bunt) bei der dort angegebenen Quelle, der "Foundation for Middle East Peace".
Es sind verdammt viele blaue Dreiecke, also israelische Siedlungen, die in den Palästinensergebieten errichtet wurden.
Ein Schelm, der dabei Böses denkt?


Nachtrag vom 25.05.06: Bei Recherchen im Zusammenhang mit der Studie "The Israel Lobby"
der beiden US-Politologen John Mearsheimer und Stephen Walt fand ich einen Brief an Präsident Bush von der US-Menschenrechtsorganisation "Human Rights Watch" vom 27.12.2005: "Israel: Expanding Settlements in the Occupied Palestinian Territories". Darin werden u. a. einige Fakten über die aktuelle israelische Siedlungspolitik im Westjordanland präsentiert, die mir jedenfalls nicht bekannt waren.


Nachtrag vom 02.06.06:
Huch, immer noch auf der Fährte von Mearsheimer und Walt, fand ich heute bei einem gewissen Norman G. Finkelstein eine noch detailliertere Karte der israelischen Siedlungen im Westjordanland. Suboptimal (die Siedelei, nicht die Karte). Zwar müssen wir auch bei den Palästinensern aufpassen, dass sie nicht unsere ausgestreckte Hand für einen Finger halten, an dem man uns über den Tisch - auf die Seite der palästinensischen Maximalisten - ziehen kann. Das sollte uns aber nicht davon abhalten, uns eindeutig gegen die israelische Expansionspolitik auszusprechen - sofern die Palästinenser wirklich bereit sind, "Frieden für Land" einzutauschen. Ob sie bereit sind, kann man testen. Nicht irgendwo im Hinterzimmer in Camp David oder anderswo: sondern indem man sie (und die Israelis) vor eine klare Alternative stellt.


Nachtrag vom 25.04.07:
Prof. Dr. Udo Steinbach, Direktor des Deutschen Orient-Instituts (Hamburg), erläutert in seinem Aufsatz "Die islamische Welt und der internationale Terrorismus" (S. 28ff. in dieser pdf-Publikation der Evangelischen Akademie Tutzing) die Hintergründe des Islamistischen Terrors gegen den Westen. Auch er sieht, genau wie John J. Mearsheimer und Stephen M. Walt in ihrer Studie "The Israel Lobby and US Foreign Policy", in dem Nahost-Konflikt eine wesentliche Ursache für die Konfrontation:
"Die fortgesetzte israelische Siedlungspolitik und Landnahme; die anhaltenden Schikanen gegenüber der palästinensischen Bevölkerung und die Weigerung der internationalen Gemeinschaft insgesamt, sich für eine »gerechte« Lösung mit Nachdruck einzusetzen, haben weithin den Eindruck einer Verschwörung gegen »die Araber« hervorgerufen. ........
Die Fortsetzung der Besiedlung in Palästina trotz eines »Friedensprozesses«, die unausgesetzten Schikanen der israelischen Militärs in den besetzten Gebieten sowie schließlich die von arabischen Sendern weitesthin verbreiteten Bilder der brutalen israelischen Antwort auf die Terrorattentate haben die Stimmung verschärft. .....
Die Widersprüche amerikanischer Politik - nicht zuletzt in Palästina - und der Aufmarsch zur Absetzung des diktatorischen Regimes in Bagdad, das bei aller Brutalität mit dem Terror von al-Qa‘ida nicht in Verbindung gebracht werden konnte, haben in weitesten Teilen der islamischen Welt die Wahrnehmung genährt, es gehe um etwas anderes als den Kampf gegen den Terror. Nicht zuletzt angesichts der Unwilligkeit des amerikanischen Präsidenten, der israelischen Besatzungsarmee in Palästina in den Arm zu fallen, sind die Stimmen derer lauter geworden, die in der amerikanischen Agenda einen »Kampf gegen den Islam« sehen."


Wichtig (aber nicht überraschend) auch seine Feststellung:
"Die Tatsache, dass die Bosniaken schließlich durch ein westliches Bündnis gerettet wurden, wird demgegenüber kaum wahrgenommen." Undank ist (wie auch im Verhältnis nicht weniger Bürger der Ex-DDR gegenüber der alten Bundesrepublik) der Politik Lohn.



Textstand vom 22.06.2023

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